Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Er war notdürftig versorgt worden und dann im Lager der Holzfäller geblieben, das sie im Wald aufgeschlagen hatten. Doch sein Zustand hatte sich dramatisch verschlechtert, sodass er nun so schnell wie möglich von den beiden Männern heimgebracht worden war, die jetzt neben Reeva dahineilten.
Endlich waren sie bei dem Haus angelangt, in dem der Verletzte lag. Eine Frau stieß die Tür auf und schob Reeva hinein, die anderen drängten hinterher. Schon als sie nur einen Fuß in den Raum gesetzt hatte, schlug Reeva ein faulig-süßer Gestank entgegen. Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Würgen, während die Bauersfrau sie zu einer der Bettstätten führte.
Darin lag ein Bursche, nur wenig älter als Reeva selbst. Seine Stirn war nass von Schweiß, und seine Augen glänzten fiebrig; stöhnend vor Schmerzen warf er den Kopf hin und her. Sein rechtes Bein war unförmig angeschwollen und wirkte, als würde es nicht zu dem schlanken Körper gehören. Mit bebenden Fingern begann Reeva die schmutzigen Bandagen abzunehmen, mit denen es umwickelt war; dabei hielt sie den Atem an, um den Brechreiz erregenden Geruch nicht wahrnehmen zu müssen.
Als sie die Binden schließlich ganz entfernt hatte, schnappte sie jedoch erschrocken nach Luft. Die Haut des angeschwollenen Beins glänzte blauviolett, sogar die Zehen waren dunkel verfärbt. Eine klaffende Wunde zog sich über das ganze zertrümmerte Schienbein und sonderte Eiter ab.
Bestürzt ließ Reeva die Bandagen fallen und wich einen Schritt vom Krankenlager zurück, doch schon ergriff eine der Frauen ihren Arm: „Was wirst du tun? Du musst ihm helfen, er ist mein Bruder! So unternimm doch irgendetwas!“ Ihre Fingernägel bohrten sich in Reevas Haut, und als sie keine Antwort erhielt, begann sie das Mädchen grob zu schütteln.
Auch die anderen mischten sich nun ein und bestürmten Reeva mit Bitten und Befehlen: „Du musst etwas tun, du bist die Heilerin! Kennst du denn gar kein Mitleid? Er ist doch noch ein Junge …“
Reevas Lippen begannen zu zittern. Tränen der Verzweiflung und Hilflosigkeit schossen ihr in die Augen, als sie nur immer wieder den Kopf schüttelte und dabei stammelte: „Ich kann das nicht … Ich weiß nicht, wie … Aber Enva, sie könnte helfen!“
„Wo ist denn diese Enva, wo ist die Alte? Du bist doch auch eine Heilerin! Versuch es, du kannst doch nicht einfach …“, toste es wieder um sie her wie ein Sturm aus menschlichen Stimmen. Plötzlich bäumte sich der verletzte Junge im Bett auf und schrie vor Schmerz, während seine Schwester in Tränen ausbrach. Reevas Hand fuhr zum Mund, sie biss sich auf die geballte Faust, um die Welle von Panik zurückzudrängen.
Es stimmte, sie war hier die Heilerin. Es spielte keine Rolle, dass sie erst seit wenigen Monaten die Heilkunst erlernte und bisher nur leichtere Wunden behandelt hatte, während es hier um Leben und Tod ging. Enva konnte ihr nun nicht helfen; vermutlich kämpfte sie gerade selbst um das Leben einer jungen Mutter und eines ungeborenen Kindes. Nein, hier war sie, Reeva, auf sich allein gestellt – ein dünnes, schmutziges Mädchen, das bisher nur von einem einzigen Menschen Anerkennung erhalten und sonst noch kaum jemanden zufrieden gestellt hatte.
Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und presste mit aller Kraft die Lippen zusammen; dann richtete sie sich kerzengerade auf. Ihr Körper fühlte sich taub an, so als gehörte er nicht zu ihr. „Bitte macht das Feuer an. Ich brauche Wasser und einen Kessel“, hörte sie sich selbst sagen. Ihre Stimme klang fremd und gepresst, doch es lag eine Entschlossenheit darin, die sie von sich gar nicht kannte.
Mit einem Schlag kehrte Ruhe ein, als die Angesprochenen stumm gehorchten. In dieser Stille glaubte Reeva ihren nächsten Gedanken wie eine fremde Stimme wahrzunehmen: „Noch ein Tag mit diesem Bein, und der Junge muss sterben.“
Ruckartig beugte sie sich zu Envas Bündel hinunter, das sie geistesgegenwärtig an sich gerissen hatte, bevor sie von den Hilfesuchenden ins Dorf gehetzt worden war. Mit vor Anspannung klammen Fingern durchwühlte sie die Gegenstände, die sich darin befanden, um schließlich einen ledernen Beutel zu Tage zu fördern. Vorsichtig holte sie ein scharfes, leicht gebogenes Messer und eine kleine Säge heraus, die Enva ihr zwar schon gezeigt, aber noch nie vor ihren Augen verwendet hatte.
Sie legte die Gegenstände ab und widmete sich dem Kessel über dem Feuer,
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