Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
noch, aber die beruhigende Wirkung des Baldrians half ihr so weit, dass sie Enva von ihrem Erlebnis erzählen konnte. Die Sätze kamen wirr und abgehackt hervor; trotzdem schien die Alte sie zu verstehen.
Nachdem sie geendet hatte, sah Reeva die Greisin mit weit aufgerissenen Augen an. Beinahe flüsternd stammelte sie: „Enva, ich glaube, es war eine Hexenverbrennung! Doch wie kann das sein? Wie kann ich dort gewesen sein, und wo ist die Frau nun?“
„Du warst nicht dort“, erwiderte Enva. „Und diese Frau auch nicht, noch nicht. Es war die Zukunft, die du gesehen hast.“
„Dann hast du also Recht damit gehabt, dass ich ebenfalls Visionen haben werde.“ Reevas Herzschlag beruhigte sich langsam, doch ein Gedanke ließ sie wieder auffahren: „Aber das, was ich gesehen habe, wird irgendwann geschehen! Und ich werde dabei sein müssen!“
Enva legte ihr die schwielige Hand über die Augen. „Schlaf nun, meine Tochter“, sagte sie leise. „Du hast kein leichtes Leben vor dir.“
***
Endlich begannen die Vorbereitungen für die Sommerwanderung. Reeva fühlte sich hin- und hergerissen: Einerseits spürte sie eine dumpfe Furcht, wenn sie an die Menschen in den Dörfern dachte – die Erinnerung an ihre Vertreibung war wie eine Narbe, die nie ganz aufhören sollte zu schmerzen. Andererseits aber versprach diese Wanderung aufregend zu werden, und das Mädchen konnte es kaum erwarten, sein kürzlich erlerntes Wissen über das Heilen unter Beweis stellen zu dürfen. Schließlich siegte die Vorfreude auf neue Erlebnisse, und Reeva stürzte sich genau wie Enva in die Arbeit, um alles für die Abreise fertig zu machen:
Gemeinsam errichteten sie einen Zaun um das Haus herum, der einen großen Teil der Lichtung mit einschloss. Dieser sollte zum einen wilde Tiere davon abhalten, in die Hütte einzudringen; zum anderen konnten sich die Ziegen an dem Gras auf dieser Weide gütlich tun. Für die Hühner füllten Reeva und Enva den Stall mit einem Vorrat an Getreide, und sie würden sich auf der Wiese selbst Käfer und Würmer zum Fressen suchen.
Zuletzt schnürte die Alte zwei Bündel, in die sie ein wenig Proviant, Kleidung und Decken packte, vor allem aber unzählige Beutel mit getrockneten Kräutern sowie Gefäße mit Salben und Arzneien.
An einem klaren Sommermorgen brachen sie auf. Reeva drehte sich am Rande der Lichtung noch einmal um und sah zu der Hütte zurück, die friedlich inmitten des üppigen Kräutergartens stand; sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie ihr Heim verändert vorfinden würden, wenn sie zurückkehrten.
Doch dann schimpfte sich Reeva in Gedanken selbst töricht und hinkte schneller, damit sie mit Enva Schritt halten konnte. Der Weg wurde ihr bald lang; trotzdem war sie froh darüber, dass die Alte nicht auf das nahegelegene Dorf zustrebte, in dem das Mädchen früher gelebt hatte. Stattdessen zogen sie in entgegengesetzter Richtung zwischen den Bäumen hindurch, sodass sie erst am darauffolgenden Tag den Waldrand erreichten.
Enva deutete mit ausgestrecktem Arm nach vorne: „Siehst du, Reeva? Man kann bereits die ersten Häuser erkennen.“
Instinktiv nahm Reeva Envas Hand, als wäre sie noch ein kleines Kind. „Was werden wir tun, wenn wir dort sind?“, fragte sie bang.
Sie glaubte zu hören, dass auch die Stimme der Alten ein wenig angespannt klang, als diese erwiderte: „Am Abend, wenn die Männer heimkehren, wird es sich bereits herumgesprochen haben, dass zwei Heilerinnen da sind; einige werden mich wohl noch vom letzten Jahr kennen. Dann versammeln sie sich üblicherweise am Dorfplatz, um etwas zu kaufen, ihre Kranken zu bringen oder uns zu ihnen zu führen. Sobald die Sonne im Sinken ist, gehen wir hin.“
Einige Stunden später, als die strohgedeckten Dächer im Abendlicht kupferfarben schimmerten, machten sich die beiden auf den Weg hinunter ins Dorf. Schon von ferne hörten sie aufgeregtes Stimmengewirr: Wie Enva es vorhergesagt hatte, drängten sich dort die Bauern zusammen, noch schmutzig und verschwitzt von ihrer Arbeit auf den Feldern.
Reevas Schritte wurden langsamer; auf einmal hinkte sie stärker als zuvor. Wie ein scheues Tier, das zitternd seine Nüstern bläht, sog sie den scharfen Geruch der Menschen ein, und ihre Nackenhaare richteten sich auf. Unter den Blicken, die ihr die verstummenden Bauern zuwarfen, wurde sie sich auf eigentümliche Weise ihrer selbst bewusst: Ein Mädchen mit spitzem Gesicht, verfilzter Haarmähne und einem nachgezogenen
Weitere Kostenlose Bücher