Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
hielt es das Mädchen nicht mehr aus. Es machte ein paar raschere Schritte, um die Alte einzuholen, und fragte vorsichtig: „Enva, du sagst, dass du keine Hexe bist. Aber wie kannst du dann den Menschen die Zukunft vorhersagen? Das ist doch Hexenwerk, oder nicht?“
Mit angehaltenem Atem wartete Reeva auf die Antwort, doch zu ihrer Erleichterung lächelte die alte Frau. „Nein, das ist es nicht, meine Tochter“, sagte sie. „Zum größten Teil beruhen meine Vorhersagen auf guter Menschenkenntnis und auf meinem Wissen über die Natur. Wenn man sich darauf versteht, auf die richtigen Zeichen zu achten, dann ist es leicht möglich, einen strengen Winter zu erahnen.“
„Das heißt, deine Vorhersagen sind nichts anderes als gute Ratschläge?“, wollte Reeva aufatmend wissen.
„Ja – meistens.“ Die Greisin verlangsamte ihre Schritte. „Manchmal allerdings sind es tatsächlich so etwas wie … Visionen.“
Das Mädchen schluckte. „Aber das ist wirklich Hexenwerk! Diese Gabe kommt vom Teufel!“
„Alle Gaben kommen von Gott!“, fiel Enva ihr ins Wort. „Und sie alle können zu bösem, aber auch zu gutem Zweck genutzt werden. Meine Sehergabe unterscheidet sich durch nichts von anderen Talenten. Auch du wirst eines Tages lernen, mit dieser Fähigkeit umzugehen und sie zu etwas Gutem zu machen.“
„Ich?“, wiederholte Reeva tonlos. „Ich habe diese Gabe auch? Wie kannst du das wissen?“
„Ich habe es gesehen“, antwortete Enva schlicht.
Reeva widersprach nicht, weil sie die Alte nicht wieder erzürnen wollte. Insgeheim zweifelte sie jedoch daran, dass ausgerechnet in ihr eine solch geheimnisvolle Fähigkeit schlummerte – erst einige Wochen später sollte sie eines Besseren belehrt werden.
***
Während sich der Sommer mit großen Schritten näherte, war Reeva täglich draußen im Garten, auf der Wiese oder im Wald. Dort sammelte sie jene Pflanzen, die nun gerade recht zum Pflücken waren: Thymian gegen Husten und Verdauungsprobleme, Pfefferminze gegen Übelkeit, Kopfschmerzen und Erkältungen, frühe Heidelbeeren, die getrocknet gegen Hautausschläge verwendet werden konnten – und vieles mehr.
Einmal hatte das Mädchen beim Kräutersammeln nicht auf die Zeit geachtet; so kam es, dass es noch im Wald unterwegs war, als bereits die Dämmerung hereinbrach. Obwohl es rasch dunkel wurde, wollte Reeva noch nicht umkehren: Sie war auf der Suche nach einem Brombeerstrauch, dessen Früchte zwar längst nicht reif waren; doch die Blätter konnten zur Behandlung von Magenbeschwerden eingesetzt werden.
Es drang kaum mehr Sonnenlicht durch das Geäst der Bäume, als Reeva endlich fündig wurde. Hastig machte sie sich daran, Brombeerblätter in ihren Kräuterkorb zu pflücken, bis ihr Blick zufällig auf eine der kleinen harten Beeren fiel. Die unreife Frucht war noch nicht blauschwarz, sondern von einem hellen Rot, und seltsamerweise konnte Reeva ihre Augen nicht davon abwenden. Das Rot schien näher zu kommen, sich zu bewegen, zu flackern …
Plötzlich roch es nach Rauch.
Das Feuer fraß sich gierig durch das aufgeschichtete Holz, und der Rauch brannte Reeva in den Augen. Die Frau wand sich, in dem verzweifelten und aussichtslosen Versuch, ihre Fesseln zu lösen. Sie warf ihren schmalen Körper hin und her, drehte den Kopf – und für den Bruchteil einer Sekunde sah sie Reeva direkt an. Dann schlugen die Flammen hoch, der Rauch verhüllte ihr Gesicht … Und die Frau schrie.
Reeva riss die Augen auf. Sie hörte einen Schrei, panisch und entsetzt, doch es war ihr eigener. Unwillkürlich ließ sie ihren Kräuterkorb fallen und lief los, zwischen den Baumstämmen hindurch, im Zickzack wie ein verschrecktes Kaninchen, das kopflos vor dem Fuchs flieht. Während sie lief, hatte sie immer noch die Flammen vor sich – bei jedem Schritt sah sie das verzweifelte Gesicht der Frau, die Todesangst ausstand.
Später wusste Reeva nicht zu sagen, wie sie in diesem Zustand den Rückweg zu Envas Hütte gefunden hatte. Als sie wieder zu sich kam, stand sie nach Luft ringend und blutend mitten in der Wohnstube. Sie musste während ihrer Flucht gestürzt sein und sich die Stirn aufgeschlagen haben, ohne dass sie es gemerkt hatte.
Enva stellte keine Fragen. Sie führte das völlig verstörte Mädchen zu dessen Schlafstätte, versorgte seine Wunde und flößte ihm einen Tee aus Baldrianblüten ein. Erst dann setzte sie sich neben Reeva und fragte sanft: „Was ist denn passiert?“
Reeva zitterte immer
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