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Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Titel: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kira Gembri
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in dem bereits das Wasser kochte. Der Duft der Kräuter, aus denen sie einen Sud zubereitete, beruhigte sie ein wenig; ihr Herz schlug etwas langsamer, und im Geiste sagte sie sich einen notwendigen Schritt nach dem anderen vor. Sie wusch das Messer und die Knochensäge in dem Sud und wühlte dann erneut in ihrem Bündel, bis sie auf den Schwamm stieß, nach dem sie gesucht hatte. Auch diesen hatte ihr Enva einmal gezeigt und erklärt, dass er in ein Gebräu aus bestimmten Pflanzen gelegt und anschließend getrocknet worden war. Insgeheim hatte Reeva damals eine Scheu davor empfunden, denn Enva hatte gewarnt:
    „Es ist nicht ungefährlich, dieses Mittel zu benutzen, um jemanden in tiefen Schlaf fallen zu lassen: Es könnte nämlich sein, dass der Patient nie mehr daraus erwacht …“
    Doch dies war nicht der Moment, um sich mit langen Überlegungen aufzuhalten. Reeva tauchte den Schwamm in warmes Wasser und wartete, bis er sich damit vollgesogen hatte; anschließend hielt sie ihn vor Mund und Nase des Verletzten.
    Der Junge atmete röchelnd, dann begann er zu husten und versuchte den Kopf wegzudrehen, doch Reeva drückte weiterhin den Schwamm auf sein Gesicht. Sie fühlte nun gar nichts mehr, weder Mitleid noch Angst; ihr gesamtes Ich bestand nur noch aus ihren Händen, die unerbittlich handeln mussten.
    Die Augen des Patienten drehten sich panisch in den Höhlen hin und her. Er wollte nach Reeva greifen und sie von sich stoßen, doch schon waren die beiden Männer hinzugesprungen und hielten ihn fest. Noch ein paar heftige Atemzüge – und sein Kopf fiel zur Seite.
    Mit steifen Bewegungen band Reeva das verletzte Bein ab und holte noch einmal tief Luft: Jetzt musste es schnell gehen, so schnell wie nur irgend möglich. Sie setzte die Klinge an und durchtrennte in einer raschen Zirkelbewegung Haut und Muskeln bis hinunter zum Knochen. Das Messer fiel klirrend zu Boden, Reeva griff nach der Säge. Die wie gebannt glotzenden Menschen waren für sie nicht mehr vorhanden, und sie achtete auch nicht auf die Schmerzen in ihren ermüdenden Armen. Nach wenigen Minuten war es vorbei.
    Behutsam wusch Reeva die Wunde mit einem Gebräu aus Kamille, Hirtentäschel und anderen Pflanzen aus, um sie zu reinigen und das Blut zu stillen. Dann vernähte sie Muskeln und Haut mit einem dünnen Zwirn, bestrich den Stumpf mit einer Kräuterpaste und verband ihn sorgfältig.
    Schließlich trat sie einen Schritt zurück. Es war geschehen, sie hatte alles getan, was in ihrer Macht stand. Langsam verflüchtigte sich die Taubheit aus ihren Gliedern, und ihre Empfindungen kehrten zurück. Jetzt, nachdem sie die Amputation bereits hinter sich gebracht hatte, überschwemmte sie nachträglich die Angst. Auf schwankenden Beinen näherte sie sich wieder dem Bett des Patienten, denn ganz war es noch nicht ausgestanden: Sie musste ihn nun aufwecken. Zögernd blickte sie auf das Gesicht des Jungen hinab; es glänzte immer noch von Schweiß, aber nun wirkte es seltsam wächsern und leblos.
    Ohne weitere Zeit zu verschwenden, holte Reeva einen zweiten Schwamm hervor, der mit Essig und Fenchelsaft getränkt war und den Schlafenden wieder zurückholen sollte. Sie drückte ihn dem Jungen an die Nase und wartete, woraufhin sogar die Schwester des Verletzten schwieg: Es schien, als wüsste sie, wie kritisch dieser Augenblick war. Reeva meinte fast, ihren eigenen Herzschlag dumpf in der Stille zu vernehmen, während sie auf die erschlafften Gesichtszüge des Patienten starrte … aber nichts geschah.
    Ein Raunen ging durch die Runde der Zuschauer, das rasch lauter wurde. „Was ist los? Warum regt er sich nicht?“ Und dann ein Aufschrei: „Du hast ihn umgebracht, verfluchtes Weib!“
    Reevas Hände verkrampften sich um den Schwamm. „Aber nein, er ist nicht tot“, stammelte sie. „Er kann nicht tot sein, seht ihr, er schläft nur, er schläft …“
    Ihre Worte wurden immer leiser, und schließlich verstummte sie ganz. Jetzt mochte der Junge noch am Leben sein, aber wenn es ihr nicht gelang, ihn zu wecken, dann waren seine Tage gezählt, dann war es nur noch eine Frage der Zeit. War die Wirkung des Schlafschwammes zu stark gewesen? Womöglich hatte sie einen Fehler gemacht, indem sie dieses Mittel gewählt hatte … Eine Heilerin aber durfte sich solche Fehltritte nicht erlauben, da andere Menschen dafür mit dem Leben bezahlen konnten. War sie das denn überhaupt – eine Heilerin? Schon begann der Zweifel den letzten Rest ihrer Hoffnung zu

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