Das Mädchen aus der Pearl Street
lahm, und vor allem verspürte sie einen brennenden Durst. Aber erstaunlicherweise fühlte sie sich absolut nicht schläfrig.
„Nun, das hätten wir geschafft!“ rief Dean ihr entgegen, als sie auf den Treffpunkt bei der Kontrolluhr zugeeilt kam.
„Ja“, konnte sie nur aufatmend und lächelnd zu ihm sagen. „Kommen Sie!“ Er bot ihr den Arm und führte sie dem Tor zu. „Sehen Sie, der Tag schlüpft soeben aus seinem Wolkenbett!“ Kitty blieb einen Augenblick stehen und schaute. Die Frühdämmerung hatte sich bereits über den Himmel gebreitet und ihn sanft rosa gefärbt mit ein paar silbernen Streifen am Horizont. Die Luft war kühl und rein, als sei sie allein für Kitty und Dean neu erschaffen worden. Kitty nahm einen tiefen Atemzug. Sie fühlte sich wunderbar lebendig; so jung und frisch, als sei sie selbst ein Teil dieses rosigen, vielversprechenden Morgens. „Wie schön!“ flüsterte sie Dean zu.
Er drückte sanft ihren Arm.
„Kommen Sie, Piccolo wartet auf uns“, mahnte er und führte sie behutsam über den Parkplatz zu einer dunkelgrünen Limousine.
„Nun“, fragte Chauffeur Piccolo, „wonach gelüstet’s die Herrschaften? Sekt? Austern? Kaviar?“
Kitty kicherte.
„Sekt! Selbstverständlich!“
„Hm. Aber wo?“ überlegte Piccolo. „Schließlich haben wir uns eine etwas ungewöhnliche Stunde zum Dinieren ausgesucht.“
„Bei Petrucci ist die ganze Nacht geöffnet“, schlug Dean vor.
Kitty erstarrte. Sie sagte nicht: Oh, bitte, bloß das nicht! Meine Mutter ist dort Kellnerin. Ich will mich ihrer ja nicht schämen, aber — bitte, verderbt mir dies schöne Erlebnis hier nicht, haltet mir die Pearl Street und alles, was damit zusammenhängt, wenigstens für eine Stunde fern! Ihr Herz schrie diesen Protest heraus, aber ihre Lippen blieben fest aufeinander liegen. Steif saß Kitty auf ihrem Sitz und wartete wie auf ein Urteil.
„Ach, nee“, widersprach Piccolo leichthin, „nicht Petrucci! Ich kenne eine Bäckerei, die bestimmt jetzt schon offen ist. Sie liegt ganz in der Nähe, und es gibt dort eimerweise Sodawasser für durstige Leute wie uns und dazu die leckersten Kuchen und Hefestücke, die ihr je gegessen habt. Und die Atmosphäre ist auch viel netter als bei Petrucci, so’n bißchen ,à la Bohème’.“
„Nun, worauf warten wir dann noch?“ gab Dean sein Einverständnis, „haben Sie irgendwelche dringenden Verpflichtungen, Kitty? Bis zum Zapfenstreich bringen wir Sie bestimmt heim!“
Sie lachte und fühlte sich wunderbar erleichtert und beschwingt.
„Zapfenstreich? Nun müssen wir wohl erst wieder orakeln, wann für Leute wie uns der Zapfenstreich angesetzt ist!“
Piccolo ließ den Motor an.
„Denkt an all die Murmeltiere, die ringsum hier die beste Zeit verschlafen!“ ulkte er, „schnarchen in ihren Betten, während wir unsere Arbeit bereits hinter uns haben!“
„Dein Gedanke ist recht wohltuend, Piccolo“, gab Kitty zu, „bis es Abend wird! Dann finde ich, sind die Murmeltiere weitaus besser dran als wir!“
„Recht einsam“, redete Piccolo wie zu sich selbst weiter, „so allein in die Nacht hinaus auf Arbeit zu tippeln, wenn der Rest der Familie wohlig zu gähnen anfängt.“
Kitty schaute ihn von der Seite an, erstaunt über eine derart empfindsame Regung in ihm. Er gab sich immer so burschikos und gesprächig, und man meinte, er wisse gar nicht, was Einsamkeit ist; aber nun hatte er plötzlich genau das zum Ausdruck gebracht, was sie immer fühlte, wenn sie auf den Zehn-Uhr-dreißig-Bus kletterte und die anderen Leute aussteigen und nach Hause streben sah.
„Na ja, immerhin ist in zwei Wochen Zahltag! Die erste Anzahlung auf meinen fahrbaren Untersatz!“ schaltete Dean eine etwas rosigere Beleuchtung der Lage ein.
„Sie kaufen sich ein Auto?“
„Ja, fürs College. Ein Student ohne Auto ist ja bekanntlich wie’n Hund ohne Schwanz.“
„Oh!“
Da war sie wieder, jene Barriere, die trennend zwischen ihm und ihr stand.
„Mein Lohnscheck wird mir zu einem Kursus in der Hall-Schule verhelfen“, kämpfte sie tapfer ihre Minderwertigkeitsgefühle nieder.
„Sehr viel vernünftiger als ein Auto“, gab Dean zu, „aber ich fürchte, auf mich legt man in der Hall-Schule keinen sonderlichen Wert.“
Da diese Schule ausschließlich für Mädchen war, konnte man gemeinsam lachen und damit das Thema beenden.
Piccolo fuhr vor der Bäckerei Sawyer vor. Sie traten miteinander in einen sehr kahlen, aber blitzsauberen Raum. Auf den
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