Das Mädchen aus der Pearl Street
und schaute sich um, denn so kam man erfahrungsgemäß am besten zu sich. Was war das? Um diese Zeit konnte doch normalerweise niemand daheim sein, außer Mutter natürlich, aber sie schlief fest. Aus der Küche drang ein zwar verstohlenes, aber doch recht wahrnehmbares Rascheln zu ihr herauf.
Kitty stieg die Treppe hinunter, und als sie durch den Torbogen am Ende des Flurs trat, sah sie, wie die Speisekammertür sich vorsichtig schloß. Was sollte denn das bedeuten? Danny hatte keinen Grund, sich vor ihr zu verstecken. Wer sonst also war im Haus?
Mit einem energischen Griff faßte sie die Klinke und riß die Tür auf. „Thomas!“
„Schon gut, schon gut, Kitty. Reg dich nicht auf! Es wird schon wieder. Es ist nur ein Kratzer…“
„Ein Kratzer?“ wiederholte sie und konnte die Augen nicht gleich von der klaffenden Wunde in seiner Schulter lösen, aus der noch Blut sickerte.
„Setz dich, um Himmels willen!“ konnte sie dann endlich sagen, „laß dich verbinden!“
Er nickte wie ein kleiner, folgsamer Junge. Noch nie hatte sie ihn so blaß gesehen. Sie rückte einen Sessel zu ihm heran und rannte zur Hausapotheke. „Setz dich, bevor du umkippst!“ befahl sie. „Wie ist das denn passiert?“
„Ach, nur ein Kratzer“, beharrte er.
„Ich muß es wissen!“ Sie schrie ihn ungehaltener an, als sie eigentlich wollte. „Wie kann ich die Wunde sonst säubern und verbinden, wenn ich keine Ahnung habe, was vielleicht drin ist?“ Das war keineswegs ihr Hauptgrund, und sie wußten es beide, aber es verfehlte trotzdem nicht die Wirkung.
„Es ist kein Revolverschuß, Kitty, falls du etwa darauf anspielst“, antwortete er bitter.
„Glas? Metall? Irgend etwas mit Rost?“
„Es war ein sehr, sehr scharfes Messer!“ gab er eisig Auskunft, „und außerdem ziemlich blank, das kann ich versichern.“
„Danke“, antwortete sie schneidend, aber als sie sich gleich darauf über die Wunde beugte, fuhr sie entsetzt zurück.
„Oh, Thomas, sooo tief...“
„Nun, ich gehe auf gar keinen Fall damit zu einem Arzt. Sie soll von allein heilen, und wenn ich dran krepiere, was ist schon verloren?“
„Aber Thomas, der Schnitt geht bis in die Muskeln; es sieht wie eine wirklich schwere Verletzung aus!“
„Ich gehe zu keinem Arzt!“ wiederholte er starrköpfig, und seine Lippen verkrampften sich zu einer dünnen Linie.
„Hm, schon gut. Ich will versuchen, was ich tun kann. Aber ich muß eine ordentliche Dosis Desinfektionsmittel hineinschütten. Es wird barbarisch weh tun!“
„Nun mach schon! Warum sollst du mir nicht weh tun?“
Als es vorüber war, sah sie fast ebenso bleich aus wie er. Sie schaute ihm ins Gesicht und suchte seine Augen.
„Warum, Thomas? Warum mußt du dir das alles antun?“
„Du meinst wohl--dir?“
„Nein, absolut nicht.“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Ich meinte genau, was ich sagte: dir selbst. Du hast dich den ‚Dämonen’ angeschlossen, stimmt das?“
„Nein“, antwortete er, „aber ich erwarte nicht einmal, daß du mir das glaubst.“
„Ich glaube dir, Thomas.“
Und dann kam es scheu aus ihm heraus, als habe er Angst, vor sich selbst zu erschrecken:
„Ich glaube, ich habe doch noch einen letzten Rest Verstand und Anständigkeit gerettet, Kitty, genug, um zu wissen, daß ich mich ihnen nicht anschließen sollte. Aber ich bin viel mit ihnen zusammen. Ehrlich gesagt, sie sind die einzigen, die mich fühlen lassen, daß ich lebendig bin.“
„Dazu gäbe es wohl noch andere Möglichkeiten. Du könntest vielleicht eine Arbeit suchen, die dich ausfüllt“, erwähnte sie, ohne Vorwurf, aber mit um so wärmerem Mitgefühl in der Stimme.
„Arbeit?“ Er spreizte seine Finger und betrachtete sie, als wären sie ihm völlig fremd. Dann plötzlich schlug er sie vor sein Gesicht.
„Ich kann einfach nicht damit fertig werden, daß ich irgendein Ölofenreparaturarbeiter sein soll--oder ein Chauffeur, der Backwaren ausfährt, oder der Handlanger irgendeines Polsterfritzen ---für den Rest meines Lebens“, brach es aus ihm heraus. „Fürs ganze Leben, Kitty! Du weißt, daß es mir nicht an gutem Willen gefehlt hat. Ich habe es versucht. Aber ich kann nicht. Es würgt mich. Ich fühle, daß ich so nicht leben kann. Manchmal, Kitty, manchmal ist mir, als sei ich längst gestorben, obwohl ich noch atme.“
„Dann hast du eben noch nicht die richtige Tätigkeit gefunden.“
„Ich habe mich bemüht, Kitty“, wiederholte er.
„Wenn du vielleicht auf die
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