Das Mädchen aus der Pearl Street
blankgescheuerten Boden war frisches Sägemehl geschüttet, und hinter der Theke standen drei Tische. Kitty hatte diese Bäckerei bisher nicht gekannt, und die peinliche Reinlichkeit gefiel ihr. Reinlichkeit beeindruckte sie immer, weil die Pearl Street ständig voller Schmutz war.
Aus der Dunkelheit eines Ganges, der offensichtlich zur Backstube führte, tauchte eine freundliche, rundliche Frau auf. Alles an ihr war von einer geradezu blendenden Sauberkeit: die gestärkte, schneeweiße Schürze, die plumpen, rosigen Hände, das blaßblonde Haar und vor allem ihr strahlendes Frau-Holle-Gesicht. Mit ihr kam eine unbeschreiblich süße, würzige Wolke in den Raum geflogen, der Duft nach frischem, warmem Brot, Rosinen, Nüssen, Vanille und Zimt.
„Was darf’s sein?“ fragte sie heiter. „Strudel, Streuselkuchen, Käsetorte, Gugelhupf, Hefeschnecken, Krapfen--alles bereits fertig!“
Die drei entschieden sich für knusprige Mohnsemmeln, und während sie dazu aus Halblitergläsern eisgekühltes Sodawasser hinunterstürzten, begann das erste Kommen und Gehen früher Kunden.
Allmählich schwand das eigenartig verzaubernde Hochgefühl in Kitty. Sie sah die Sonne draußen über die Häuserdächer steigen und in schrägen Strahlen aufs Pflaster fallen. Bald würde die stille Straße voller Lärm und voller Menschen sein. Der rosig-frische Morgen verblaßte, um einem ganz gewöhnlichen, lauten, heißen Tag Platz zu machen.
„Ich glaube, ich muß jetzt gehen“, sagte sie, „mein Bus fährt in zehn Minuten vom Hauptplatz ab.“
„Oh, das ist völlig unwichtig“, widersprach Dean, „wir haben ja unseren Privatchauffeur bei uns und werden Sie bis vor die Haustür fahren.“
„O nein--wirklich! Das geht nicht!“ stotterte Kitty. „Ich kann es Ihnen nicht zumuten, und--und außerdem muß ich noch Besorgungen machen.“
„Um sieben Uhr morgens?“ mischte sich Piccolo ein, „mach keine dummen Witze, Kitty.“
Kitty wand sich wie ein Wurm.
„Nein, es geht tatsächlich nicht“, verteidigte sie sich mit beschwörendem Blick, „ich muß den Bus nehmen. Ich muß!“
„Der Wunsch einer Dame sei uns Befehl!“ zitierte Piccolo und rettete damit Kitty vor weiterer Verlegenheit. „Schluck deine Semmel und laß uns gehen, Dean. Aber irgendwann einmal, Kitty, liefern wir dich direkt ab!“
Es waren nicht seine harmlos hingeworfenen Worte, sondern sein Blick, der Kitty einen neuen Schrecken einjagte. Er wußte, was los war. Wie hatte er es herausgebracht? Vielleicht, weil sein Vater Pfarrer war und sich um Elendsviertel wie die Pearl Street zu kümmern hatte? Piccolo wich ihrem ängstlich forschenden Blick aus. Ihr war plötzlich ausgesprochen übel. Piccolo wußte es, aber Dean hatte wohl noch keine Ahnung, woher sie stammte. Sag es ihm doch, höhnte eine Stimme in ihr, verdirb dir die erste und letzte Gelegenheit, von ihm anerkannt zu werden und wenigstens für kurze Zeit glücklich zu sein.
„Okay, okay“, hörte sie wie aus weiter Ferne Dean sagen. Etwas umständlicher als nötig entknotete er unterm Tisch seine langen Beine und stand auf. „Ich kann allerdings nicht verstehen, warum ihr es plötzlich gar so eilig habt.“
Piccolo verriet mit keiner Miene, was in ihm vorging. Vielleicht machte sie sich unnötige Sorgen? Vielleicht war alles nicht gar so schlimm? Sie wußte, daß sie überempfindlich war und vielleicht übertrieb, wenn sie sich ihrer Zugehörigkeit zur Pearl Street derart schämte, daß sie ihre Adresse nach Möglichkeit jedem ängstlich verbarg. Vielleicht war es gar nicht so, daß man sich von ihr abwenden mußte wie von einer Aussätzigen, wenn man erfuhr, wo sie aufgewachsen war? Vielleicht...? Was mochte Piccolo über all dies denken? Vergeblich suchte sie in seinen Zügen nach einer Andeutung seiner Einstellung dazu. Oder wußte er am Ende doch nicht alles?
An der Bushaltestelle kletterte Kitty aus dem Wagen, bedankte sich und winkte den beiden dann nach. Sie fühlte sich sehr erleichtert, als sie das dunkelgrüne Auto in entgegengesetzter Richtung der Pearl Street davonrollen sah. Aber gleich darauf fiel es ihr wie eine schmerzende Last auf die Seele: Allerfrühestens nach vierzehn langen Stunden sollte sie nun Dean erst Wiedersehen dürfen!
5. KAPITEL
Um halb vier Uhr stellte Kitty den Wecker ab. Seit einer Stunde hatte sie sich nun bereits schlaflos von einer Seite auf die andere gewälzt, jetzt gab sie langsam auf. Sie setzte sich im Bett hoch, rieb sich die Augen
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