Das Mädchen aus der Pearl Street
Schule zurückgingest und dein High School-Abschlußzeugnis erwerben könntest.
Er schnitt ihr mit einem bitteren Lachen das Wort ab.
„Was wäre damit geholfen? Ich würde nach wie vor als ungelernter Arbeiter rangieren. Dicke Muskeln und ein fettes Grinsen, das ist alles, was man braucht, um vierzig Dollar pro Woche und vielleicht später einmal sechzig zu verdienen. Das
Hirn kann dabei in aller Ruhe absterben und vermodern. Die ,Dämonen’ verlangen zumindest von mir, daß ich denke, Kitty. Sie sind nicht wirklich schlecht...“
„Nein, sie sind Helden“, rief sie aufgebracht, „sie lungern den ganzen Tag um Nr. 211 herum wie eine Horde Wölfe, und wohin steuern sie von dort? Eines Tages werden sie nicht mehr nur herumlungern, sondern sie werden Dinge tun, die hoffentlich auch du heute noch verurteilst. Und später? Auch die ,Dämonen’ sind nicht ewig jung, Thomas.“
Was nutzten Worte? Sie fühlte, daß er ihr bereits wieder entglitten war. Armer Thomas! Schon immer hatte er in ein paar Minuten erfaßt, woran andere einen Tag lang büffeln mußten, und die Langeweile hatte ihn dann befallen wie Rost oder Knochenfraß; er wurde ungeduldig und rastlos wie ein Tier im Käfig. Er hatte zuviel Energie, zuviel Verstand, zuviel von allem, wonach andere strebten, aber gerade das war ihm bisher zum Verhängnis geworden.
Kitty stand auf und betastete sorgsam den Verband, um sicher zu sein, daß er fest saß. Als sie aufschaute, sah sie die Mutter in der Tür stehen und sie beide mit entsetzten Augen anstarren.
„Guten Tag, Mam“, sagte sie möglichst unbefangen und überlegte dabei, wie lange sie wohl schon dagestanden und wieviel sie von dem Gespräch belauscht haben mochte.
„Was ist los? Ist etwas passiert?“
Thomas fummelte an seinem Sporthemd herum, aber als er den Arm heben wollte, schrie er auf. Er hatte es nicht unterdrücken können.
„Nur ein Kratzer!“ versuchte er zu erklären, „Kitty hat mich bereits wieder zurechtgeflickt.“ Er biß die Zähne zusammen. Aus den Augen seiner Mutter sprach all das, was er hatte vermeiden wollen, aber ihre Stimme blieb tonlos.
„Du mußt das auskurieren, Thomas“, hörte er sie sagen, und für einen Augenblick fühlte er ihre Hand auf seinem Haar.
„Er ist blaß, Kitty“, wandte sie sich an die Tochter, „Mrs. Witkowski hat eine Flasche Cognac. Lauf zu ihr und bitte sie um ein Glas voll für unseren Jungen!“
„Ich brauche nichts“, widersprach Thomas, „höchstens ein bißchen Wasser.“
Kitty lief zur Wasserleitung, und er trank das Glas mit einem gierigen Zug leer.
„Danke, Kitty. Ich gehe jetzt kurz fort. Aber zum Abendessen bin ich wieder hier.“
„Wie schön!“
„und--und ich danke dir!“
Die Tür fiel zu, und wie auf ein Signal sank Mutter aufs Sofa. Ihre Beine hätten sie keine Minute länger halten können.
„Thomas ist ein guter Junge“, sagte sie so laut, als müsse sie eine ganze Welt davon überzeugen. Kitty holte tief Atem. Mutter wußte also Bescheid. Wie dumm, daß sie immer hatte glauben wollen, Mutter habe keine Ahnung, was sich hier im Haus abspielte. Sie mochte überarbeitet und von den nimmer endenden Sorgen erschöpft sein, aber sie hatte ein Herz. Und sie besaß außerdem noch jenes ganz besonders verläßliche Gefühl, das nur Müttern eigen ist.
„Thomas wird seinen Weg schon gehen“, versuchte Kitty zu trösten und wünschte, daß sie es selbst hätte glauben können.
„Seine Hände“, seufzte Mutter, „seine Hände! Er hat die gleichen Hände wie mein Vater. Sein Großvater!“
Kitty biß sich auf die Lippen. Wie oft hatte sie diese Worte schon mit anhören müssen? Als ob Hände allein schon einen Chirurgen ausmachten! Aber ihre Geduld half ihr, möglichst ruhig zu entgegnen:
„Ja, Mutter, sicherlich. Genau wie Großpapa. — Nun setze dich aufs Sofa und mache dir’s gemütlich! Ich bringe sofort ein Glas Eistee für uns beide.“
Als Kitty an diesem Abend zur Omnibushaltestelle ging, stoppte ein Auto neben ihr. Cy Whitney hielt ihr den Schlag auf.
„Darf ich Ihnen mein Taxi anbieten?“ fragte er.
„Danke.“
Sie kletterte neben ihn.
„Das ist ein ulkiger kleiner Wagen“, sagte sie, als sie endlich saß.
„Es ist ein alter deutscher Volkswagen“, stellte er vor. „Viel zu billig, um modisch und elegant sein zu können. Aber er läuft und frißt wenig Benzin. — Wie geht es Ihrem Bruder?“
Sie sah ihn erstaunt an. „Wieso?“
„Sie wissen genau, was ich meine. Er war in
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