Das Mädchen aus der Pearl Street
kopfschüttelnd weiter.
12. KAPITEL
Der Samstagabend kam, und Kitty verbrachte ihn nicht tanzenderweise mit Dean, sondern sie saß neben Danny vor dem Fernsehapparat und bemühte sich, ihre Gedanken auf das Programm zu konzentrieren. Sie war nicht sehr glücklich, denn allzu viele Dinge sprachen zu ihr von Piccolo, das Buch, das er Danny geliehen hatte, die Tüte Lakritzbonbons, die zwischen ihnen auf dem Sofa lag. Während Kitty am Nachmittag in der Stadt war, um ihren Lohnscheck einzulösen, war Piccolo nämlich wieder dagewesen. Danny hatte ihn gesehen. Danny hatte mit ihm gesprochen. Eine ganze Stunde waren sie beisammen gewesen, und Kitty mußte sich gestehen, daß man sogar auf seinen eigenen kleinen Bruder eifersüchtig sein kann.
„Er ist wirklich ein Prachtmensch“, schwärmte Danny, „ist es nicht nett von ihm, daß er so oft herkommt?“
Es war nicht schwer, die Unterhaltung mit Danny immer wieder auf Piccolo zu lenken, und Kitty gab sich nicht einmal Mühe, dieser Versuchung zu widerstehen, denn es tat ihr wohl, auch nur seinen Namen zu hören und selbst aussprechen zu dürfen.
„Ich war erstaunt, als ich hörte, daß er mit seiner Fabrikarbeit aufgehört hat“, sagte sie so nebenbei.
„Ja, ich weiß“, stimmte Danny zu.
„Aber warum wohl?“ tastete sie sich weiter vor, denn vielleicht hatte er Danny gegenüber Näheres geäußert.
Danny zuckte die Achseln.
„Keinen Dunst. Er sagte, es bleibe ihm zuwenig Zeit für den Drama-Club, und darum sei er einfach gestern ins Personalbüro gegangen und habe gebeten, man möge ihm seinen Scheck per Post schicken, da er nicht mehr zur Arbeit kommen werde. Komisch, nicht?“
„Nun, ich gebe zu, daß es sehr anstrengend und kraftraubend ist, jede Nacht dort in der Hitze zu stehen“, seufzte sie.
„Und wo er doch anderweitig so gut ist! Ich meine, als Schauspieler!“ führte Danny aus. „Ich habe ihn zwar bisher nie auf der Bühne gesehen, aber jeder sagt, daß er einfach tolles Talent hat. Weißt du, daß Hunderte von Anwärtern mit ihm bei der Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule konkurrierten, und er hat sie alle an die Wand gespielt! Er hat nicht nur die Prüfung bestanden, sondern er hat sich außerdem ein Stipendium verdient. Ganz große Sache, wie?“
Kitty nickte traurig. Es tat ihr weh, zu wissen, daß er aus Fairfield fortging. Bei seiner Rückkehr würde sie ihn sicher verändert finden. An all die hübschen Mädchen, mit denen er gemeinsam seine Kurse besuchen würde, durfte sie schon gar nicht denken! Vielleicht saß sie ein paar Jahre später so wie heute an ihrem Fernsehapparat und sah auf dem Bildschirm Piccolo in einer großen Rolle? Ich liebe dich, Piccolo, würde sie flüstern, und sie würde dabei traurig sein.
„Ich bin müde“, unterbrach Danny ihre melancholischen Zukunftsvisionen, „willst du nicht den Apparat ausschalten? Du schaust sowieso nicht hin.“ Er betrachtete sie fragend.
„Ich sehe wohl hin“, widersprach sie grimmig, „ich nehme jedes Wort auf!“
„Na?“ machte er ungläubig und humpelte dann die Treppe hinauf.
Er war kaum fünf Minuten aus dem Zimmer, als Kitty durch die Hintertür Thomas hereinkommen hörte. Er steckte seinen Kopf durch die Portiere und fragte:
„Wie wär’s mit einem Coca-Cola?“
„Fein.“
Kurz darauf kam er mit einem Tablett und zwei Gläsern herein und setzte sich zu seiner Schwester.
„Wen betrauerst du denn?“ erkundigte er sich, „du siehst aus, als seien dir sämtliche Felle weggeschwommen. Vergnügter Samstagabend!“
Er klickte den Fernsehapparat aus und legte sich auf die Couch.
„Spaß beiseite, Kitty, was ist mit dir los? Wird die Arbeit zuviel für dich?“
„Eine Arbeit, die einundsiebzig Dollar in der Woche einbringt, kann nie zuviel sein“, antwortete sie.
„Dann---hast du irgendwelchen Kummer? Vielleicht mit
deinem Freund, wo steckt er denn heute abend?“
Kitty zwang sich zu einem Lächeln.
„Die Welt ändert sich und mit ihr die Menschen“, philosophierte sie. „Mir geht’s gut.“
„Ich habe dich etwas gefragt“, erinnerte er und legte seine Beine auf einen Stuhl.
Kitty betrachtete ihn abschätzend. Seine Stirn zeigte noch immer die tiefe Schramme von neulich, aber sonst war er wieder wie sonst, das heißt, er war nicht wie sonst, er war ernster geworden seit jenem Abend. Sie war sich noch nicht ganz klar darüber, in welchem Maße das Geschehene ihn verändert hatte, aber sie spürte, daß sie von neuem
Weitere Kostenlose Bücher