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Das Mädchen aus der Pearl Street

Das Mädchen aus der Pearl Street

Titel: Das Mädchen aus der Pearl Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy Gilman Butters
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sie waren. Man nannte sie „Eisenbahn-Wohnungen“, denn die Zimmer hingen wie eine Reihe Güterwaggons aneinander, ohne trennende Korridore, und die einzige Dekoration darin waren die Blechrohre, die sich ohne Verputz an der Decke entlangzogen.
    „Liebe Güte!“ sagte sie laut.
    „Gefällt es Ihnen bei mir?“ rief Clovis hinter dem Vorhang hervor.
    „Wo---wo sind denn die Rohre, und wo ist der Ofen--- und die Tapeten?“
    „Ich habe hier gründlich umgebaut“, lachte Clovis stolz, „selbst ist der Mann! Den Ofen habe ich in die Küche versetzt; die Rohre sind nach wie vor da, aber ich habe sie mit einer Holztäfelung verschalt. Der Rest der Herrlichkeit stammt höchst einfach aus Farbtöpfen.“
    Kitty lief bewundernd im Raum umher. Die Wände waren weiß angepinselt — wer käme in der Pearl Street auf solch eine Idee! -, und den Fußboden bedeckten saubere schwarze und weiße Linoleumplatten. Die Möbel waren spärlich, aber geschmackvoll gewählt, eine niedrige Couch mit sehr modernem, heidekrautfarbenem Bezug und rosa und weißen Kissen, drei praktische Stühle, die man zusammenklappen und leicht verstauen konnte, ein Regal mit einem Plattenspieler und einem großen Schallplattenständer darunter und ringsum viele buntbeladene Bücherbretter.
    „Herrlich!“ begeisterte sich Kitty, „aber--das alles muß schrecklich teuer gewesen sein!“
    Clovis lächelte. „Absolut nicht. Das meiste habe ich irgendwo aus dem Gerümpel geholt und zusammengenagelt und gestrichen. Die einzigen Möbelstücke, die hier über zehn Dollar gekostet haben, sind das Sofa und der Plattenspieler. Ich wollte mir selbst beweisen, daß so etwas möglich ist, und ich habe es dann auch glücklich geschafft.“
    Kitty trat an das Bild heran, das über dem Sofa hing.
    „Haben Sie das auch gemalt?“ fragte sie ehrfürchtig.
    „O nein, das ist ein Gauguin.“
    „Ein Gauguin?“ wiederholte Kitty, „was bedeutet das?“
    „Gauguin ...“ Clovis nahm eine Mappe vom Bücherbrett und reichte sie Kitty. „Hier sehen Sie mehr von ihm. Er ist ein französischer Impressionist.“
    Kitty setzte sich aufs Sofa und war bald darauf umrahmt von Reproduktionen berühmter Gemälde von Rembrandt und Daumier und Manet und Monet und einem Bündel Cowboy-Bilder aus den Werken Remingtons. Clovis sprach eifrig auf sie ein, so als liebe sie jedes einzelne Bild und müsse es ihr persönlich ans Herz legen. Auch als sie zwei gehäufte Teller aus der Küche geholt hatte, plauderte sie weiter, und es dauerte eine ganze Weile, bis Kitty bemerkte, daß Clovis ohne Messer und ohne Gabel aß.
    „Stäbchen!“ rief sie verwundert.
    Clovis lächelte verlegen. „Ich hatte gehofft, es falle Ihnen nicht weiter auf. Ich kann es nämlich noch nicht richtig wie die Chinesen, aber ich übe brav weiter; über das Stadium, da mir ständig alles in den Schoß fiel, bin ich bereits hinaus, und darauf bin ich ehrlich stolz.“
    „Aber---was für eine komische Idee!“ staunte Kitty weiter und vergaß dabei sogar, taktvoll zu sein.
    Clovis’ Lächeln vertiefte sich. „Letztes Jahr habe ich mich mit französischer Küche und französischen Tischsitten befaßt. Warum? Nun, aus Neugierde, nehme ich an.“
    Neugierde! Kitty betrachtete all die Bücher auf den Regalen und die Bilder und die Schallplatten. „Sie müssen schrecklich neugierig sein!“ schloß sie daraus.
    „Stimmt. Und warum auch nicht? Unsere Welt ist so groß und mannigfaltig, da kann man gar nicht genug sehen und wissen und erkennen wollen.“
    „Sie waren im College, deshalb sind Sie vielleicht so interessiert...“, murmelte Kitty.
    „Aber wieso?“ Clovis schaute fast erschrocken drein. „Was hat das damit zu tun? Jeder Mensch hat ein Recht, wißbegierig zu sein. Schließlich leben wir alle in der gleichen Welt. Wissen hat absolut nichts mit Schulweisheit zu tun; es kommt ganz von selbst, wenn man wirklich lebt, wirklich lebendig ist.“
    „Jeder ist doch schließlich lebendig“, widersprach Kitty. „Wenn man für nichts Interesse verspürt, nicht den Drang hat nach Wissen und Erkenntnis, dann vegetiert man allenfalls, aber ich nenne das nicht leben, Kitty“, verteidigte Clovis ihre Einstellung eifrig. „Manche Leute hören zu lernen auf, wenn sie zehn Jahre alt sind. Sie laufen zwar weiter zur Schule oder zur Arbeit und gehen dann wieder nach Hause, essen und schlafen, suchen einmal ein Kino auf, heiraten, bekommen Kinder — aber trotzdem verpassen sie jede Gelegenheit, etwas zu lernen,

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