Das Mädchen aus der Pearl Street
„Aber es ist mir völlig unklar, wie Sie hier Disziplin halten. Ich habe Sie nicht ein einziges Mal schimpfen hören!“
„Es ist eigenartig“, gab Clovis zu, „aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß diese Kinder überhaupt nicht hinhören, wenn man sie anbrüllt. Ich vermute, weil sie daheim immerzu gescholten werden und sich daran gewöhnt haben. Eine ruhige, beherrschte Stimme ist ihnen eine solche Überraschung, daß sie vor lauter Staunen zuhören, was sie ihnen sagen will.“
„Die kleine Bande liebt Sie offensichtlich“, bemerkte Kitty, aber dabei war sie sich nicht darüber klar, ob sie selbst darauf erpicht war, die Zuneigung von fünfundzwanzig schmutzigen Proletarierkindern zu gewinnen, doch wenn Clovis Wert darauf legte, mußte es sich doch vielleicht lohnen. Clovis schaute zur Seite.
„Nun, irgend jemand muß schließlich ein Herz für sie haben“, sagte sie einfach.
Kitty fühlte sich seltsam berührt. Sie sah sich selbst, wie sie da neben Clovis stand, und es wurde ihr bewußt, wie unrecht sie hatte, als sie die ganze Welt immerzu nur einzig und allein nach dem Maßstab der Terrassenstraße beurteilt hatte. Vielleicht gab es etwas, das viel größer und besser war als ihre bisherigen Ideale, etwas, wovon Cy und Clovis wußten und was ihr bisher unbekannt geblieben war? Impulsiv sagte sie: „Lassen Sie mich nächste Woche die Ballons stiften? Ja? Darf ich?“
Als Kitty an diesem Nachmittag nach Hause kam, hörte sie, daß Piccolo inzwischen Danny einen Besuch abgestattet hatte. Er hatte sich also absolut nicht verändert und Danny nicht vergessen. Beim Klang seines Namens empfand sie eine unbeschreibliche Erregung, und sie hoffte sehr, Danny würde ihn noch einmal aussprechen, was er auch bereitwillig und mit Begeisterung tat.
„Und schau, was er mir mitgebracht hat!“ freute er sich und setzte sich bereits ohne Hilfe auf, „Bücher! Alle die alten, die er früher selbst gern gelesen hat: Die Schatzinsel, Der Hengst, Robin Hood. Er liest seine Lieblingsbücher immer wieder durch, genau wie ich. Erinnerst du dich, daß Thomas einmal sagte, das sei ein Zeichen von gehemmter Entwicklung?“
„Ja“, lächelte Kitty, „ich glaube, ich gehöre auch zu diesen Fällen.“
„Und Cy hat auch zu mir hereingeschaut“, erzählte Danny fröhlich weiter, „mitsamt einer Schachtel Schokolade! Er sagte, er habe dir und Clovis inzwischen das Gemeindehaus anvertraut, und du machtest dich recht gut. Er meint, du würdest eine verläßliche Assistentin von Miß Hart werden.“
„Nicht Assistentin, Danny“, schränkte sie ein, „eher eine Art Junior-Gehilfin mit der Betonung auf ,Junior’“
„Sie ist toll in Ordnung, nicht wahr, Kitty--?“ Er zögerte
einen Augenblick und schaute sich vorsichtig um. „Du, Kitty, ich wollte dich etwas fragen ...“
„Na, los!“
„Hm, was ist mit Pussy Putnam? Ich habe--, ich konnte einfach nicht überhören, daß auch er verdroschen worden ist. Stimmt das?“
Kitty nickte.
Er schaute zur Seite. „Thomas hatte eine Schramme auf der Backe, und seine Hand war verbunden — gestern.“
Sie nickte wieder. „Stimmt, Danny.“
Sein Gesicht verzog sich zu einem schiefen Lächeln.
„Ist das alles, was du mir sagen kannst?“
Sie lächelte zurück. „Das sollte genügen, Danny.“
„Er hat ihn nicht allzu schwer verletzt, oder doch, Kitty? Das wäre mir nicht recht, du weißt schon, Kitty.“
Sie streckte den Arm nach ihm aus und betastete seinen verschwollenen Kiefer. „Ich glaube, Thomas hat ihm nicht allzu weh getan, aber ich hoffe doch, daß Pussy den Denkzettel verstanden hat und von nun an weiß, daß er nicht einfach jeden angreifen kann, der ihm nicht in seinen Kram paßt.“
„Gut“, nickte Danny zufrieden und nahm sein Buch wieder auf, aber dann fügte er noch strahlend hinzu: „Mensch, bin ich froh, daß ich einen Bruder wie Thomas habe; er ist in Ordnung, Kitty, nicht wahr?“
„Ich finde, daß du selbst in Ordnung bist“, lachte sie und zottelte zärtlich seinen Haarschopf, während sie aufstand, denn es war Zeit für sie, zur Arbeit zu gehen.
Heute war Zahltag und außerdem der 1. August. Als Al mit dem Bündel grüner Schecks zu ihr kam, grinste er gönnerhaft und rief: „Soweit wär’s geschafft, Kitty! Ihre vierte Woche hier und der erste üppige Scheck. Übrigens--ich habe gehört, daß Ihr Bruder am Mittwoch verletzt wurde. Haben Sie deshalb die Schicht versäumt?“
„Ja“, gab sie zu, „aber es geht ihm
Weitere Kostenlose Bücher