Das Mädchen aus der Pearl Street
Schließlich wohnen wir hier, nicht wahr?“
Mit einer ganz eigenen Erregung betrachtete Kitty den großen Bruder. Die Tatsache, daß er sich an einer Familiendiskussion überhaupt beteiligte, war bereits ein Fortschritt; daß er die Führung des Gesprächs im Laufe der Unterhaltung an sich riß, war um so beachtlicher; aber daß er gar noch ihren, Kittys, Standpunkt vertrat, grenzte nachgerade an ein Wunder!
„Ihr solltet sehen, was Clovis Hart aus ihrer Wohnung gemacht hat“, redete sie begeistert weiter, „aus der Bruchbude gegenüber von Nr. 211.“
„Du meinst, wir könnten vielleicht ein neues Sofa kaufen?“ regte Danny schüchtern an.
„Jawohl“, bestimmte Thomas energisch, „ein Sofa und ein paar Sessel.“
„Auch die schönsten Polstermöbel können hier nichts retten“, widersprach Kitty, „schaut euch die gräßliche Tapete an!“
„Dann müssen wir eben frisch tapezieren!“ begegnete Thomas ihrem Einwand und eroberte damit nun restlos Kittys Interesse.
Neue Tapeten — neue Möbel — möglicherweise gar ein Teppich? Ihre Augen strahlten. Warum hatte bisher niemand an diese prächtige Lösung gedacht? Wie konnten sie allesamt seit Jahren sich über die häßlichen Wände ärgern, ohne auf den Gedanken zu kommen, daß man alles vielleicht ändern könnte? Jetzt waren sie im Begriff, den ersten Schritt zu einer grundlegenden Wandlung zu tun. Von jetzt ab betrachteten sie dieses Haus nicht nur als irgendeinen Platz, wo man aß und schlief. Sie wollten sich ein rechtes, echtes Heim schaffen, einen Mittelpunkt für ihrer aller Leben, das man lieben und wo man zusammen glücklich sein konnte.
Die ganze Familie war fortan noch eifriger tätig als bisher. Kitty hatte während des Sommers acht Pfund abgenommen, und unter ihren Augen begannen sich dunkle Ringe abzuzeichnen, aber das kümmerte sie nicht. Jeder Dollar erschien nun noch wertvoller als bisher, da sie ihr Gehalt zu einem lohnenden, gemeinsamen Ziel beisteuerte. Abgesehen von den finanziellen Mitteln, die erst verdient werden mußten, verlangte die Neuausstattung allein des Wohnzimmers viel Aufmerksamkeit und Zeit, so daß Kitty so wenig wie irgend möglich schlief. Man ging gemeinsam von Möbelgeschäft zu Möbelgeschäft, bis man endlich einstimmig eines Nachmittags kurz vor dem Essen die richtigen Stücke gewählt hatte — auf Teilzahlung natürlich, dreißig Dollar erste Rate und dann jeden Monat zehn. Zwei praktische, auseinanderklappbare Couchbetten mit Bezügen aus schwarzweißem Tweed, ein korallenroter Sessel, ein niedriger Tisch, zwei Regale, die sich zwischen den Sitzgelegenheiten nützlich und gefällig zugleich machten, und zwei passende Lampen. Die Auswahl der Tapete blieb Kitty überlassen; nach mehreren Besuchen sämtlicher Läden der Stadt kam sie mit einigen Rollen nach Hause, die ausreichten, nicht nur das Wohnzimmer, sondern gleich auch das Eßzimmer mit schwarz-goldenen Streifen auf zart korallenfarbenem Grund auszustaffieren.
Die Möbel wurden am folgenden Samstagmorgen geliefert. Es war eine Sensation für den ganzen Straßenblock. Nicht nur die Nachbarn liefen zusammen, um zu bewundern oder zu kritisieren. Auch aus den Seitengassen strömten die Gaffer und die Klatschmäuler herbei.
„Sie scheinen zu Geld gekommen zu sein, Mrs. Broscz..
„Seien Sie vorsichtig, sonst erhöht man Ihnen die Miete...“
Thomas warf kampfbereit den Kopf zurück. „Und wenn die ganze Straße sich in Schmutz und Schäbigkeit wohlzufühlen scheint, wir tun es nicht! Wir kaufen, was wir für richtig halten, ob es dem Hauswirt gefällt oder nicht.“
„Das ist der richtige Geist, Bürschchen!“ strahlte Mrs. Wittkowsky, und dann knuffte sie gönnerhaft ihren Mann in die Rippen: „Wie wäre es, wenn du dich endlich zusammenrissest und meinen seit fünf Jahren zusammengebrochenen Schaukelstuhl reparierstest, Billy? Oder denkst du vielleicht, wir wohnen auf einem Schutthaufen?“
Mr. Wittkowski kniff die Augen zusammen und tat, als müsse er weinen.
„Thomas“, jammerte er, „ich sehe es kommen! Tagtäglich wird sie nun hinter mir her sein, bis auch wir in neuen Klamotten sitzen!“
Thomas grinste. „Es ist also ratsam, so schnell wie möglich alten Schaukelstuhl auf neu zu polieren!“
Die neuen Sachen wurden einstweilen in der Mitte des Wohnzimmers zusammengestellt und mit Zeitungen und Lumpen sorgfältig zugedeckt. Mit vereinten Kräften ging sodann die Familie den häßlichen Wänden zuleibe. Die
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