Das Mädchen aus Mantua
Fremde umgebracht zu werden ist schlimm genug, aber sich hinterher auch noch in ungeweihter Erde verscharren lassen zu müssen wie der schändlichste Galgenvogel – was für eine unvorstellbare Grausamkeit!«
»Es war sogar noch schlimmer«, vertraute Vitale ihr an. »Bevor sie auf den Schindanger kamen, wurde ihnen weit Grässlicheres angetan. Sie wurden der Anatomie übergeben und dort vor Scharen von Zuschauern tagelang aufgeschnitten und in ihre kleinsten Einzelteile zerlegt.«
Er beugte sich über sie, um ihre Brust zu küssen. »Aber jetzt genug damit. Lass uns über was anderes reden. Etwas Schönes. Zum Beispiel das hier …« Er machte Anstalten, sich über sie zu schieben, doch Arcangela rollte sich blitzschnell zur Seite und setzte sich auf. Allein sich vorzustellen, wie diese armen Teufel mit Messern, Zangen und Haken traktiert wurden, ließ jeden Gedanken an lustvolle Vergnügungen in weite Ferne rücken. Sie hatte oft genug Blicke in Celestinas bebilderte Lehrbücher geworfen, um zu wissen, was bei einer Sektion geschah. Besonders plastisch war ihr eine akribisch gezeichnete Abbildung im Gedächtnis geblieben, auf der ein Anatomierter sich die eigene aufgetrennte Bauchdecke vom Leib gehalten hatte, damit der Betrachter die freigelegten Eingeweide besser sehen konnte. An die Zeichnung eines aufgesägten Schädels sowie eines Tisches, der von den schaurigsten Werkzeugen der Anatomen nur so überquoll, erinnerte sie sich ebenfalls noch sehr gut.
»Ach, weißt du, Vitale, heute muss ich früher fort. In meiner Leidenschaft vergaß ich vorhin, es zu erwähnen, aber Tante Marta …« Im Kopf überschlug sie die infrage kommenden Ausreden und entschied sich für eine naheliegende. »Sie wird heute operiert. An einem … Furunkel. Einem sehr vereiterten. Ich muss ihr Beistand leisten.«
»Kann das nicht deine Schwester machen? Celestina ist doch diejenige, die sich auf diese Dinge versteht.«
»Deshalb muss sie ja auch den Furunkel aufschneiden. Hinten, verstehst du. Ich stehe vorne und leiste Beistand. Und spende Trost.«
Vitale war sichtlich enttäuscht, doch sie küsste ihn rasch auf die Stirn und sprang vom Bett auf. »Wir sehen uns ja bald wieder, mein Liebster.«
Bevor er Einwände erheben konnte, war sie bereits bei der Tür und warf ihm einen Handkuss zu, während sie mit der anderen Hand hektisch ihr Kleid richtete. »Und versprich mir, dass wir beim nächsten Mal nicht über die Anatomie reden, ja?«
»Aber …«
Sein Protest wurde vom Knirschen der Türangeln übertönt, und den Rest von dem, was er sagte, konnte sie bereits nicht mehr hören.
Celestina saß auf ihrem Bett und blätterte in anatomischen Zeichnungen, Abbildungen aus der Commentaria von Berengario da Carpi, von denen sie besonders gern die Muskelanatomie und die Darstellung der weiblichen Geschlechtsorgane studierte.
Arcangela blickte ihr über die Schulter. »O mein Gott! Was ist das für ein Wesen? Es sieht so … zerfleischt aus!«
»Das ist es auch. Die Darstellung bildet die menschliche Muskulatur ab.«
Arcangela blickte schärfer hin. »Zum Teufel! Es ist ein Mann! Siehst du sein Ding?«
»Na ja. Auch das ist ein Muskel.«
»Aber der arme Kerl hängt am Kreuz! Das ist Blasphemie!«
»Es ist lediglich eine künstlerische Darstellung. Eine anatomische Kreuzigung.«
»Nur Verrückte können sich so was ausdenken«, sagte Arcangela im Brustton der Überzeugung.
»Nein, in dem Fall war es ein berühmter Anatom. Was ist los mit dir? Du wirkst irgendwie … aufgewühlt.«
»Ach, es ist nichts«, behauptete Arcangela, doch Celestina sah ihr an, dass das nicht stimmte. Da ihre Stiefschwester nicht darüber reden wollte, hing es zweifelsohne mit ihrem letzten amourösen Ausflug zusammen. Sie war am Nachmittag früher als erwartet zurückgekehrt, möglicherweise hatte es Ärger gegeben.
»Du bringst dich doch nicht in Schwierigkeiten, oder?«, fragte sie besorgt.
»Ich doch nicht«, sagte Arcangela. »Außerdem musst du das gerade fragen.«
Celestina biss sich auf die Lippe. Es stimmte, gerade sie hatte wohl kaum das Recht, Arcangela leichtsinniges Verhalten vorzuwerfen.
»Du hast deine Meinung nicht zufällig geändert?«, fragte Arcangela hoffnungsvoll. Sie ließ sich neben Celestina auf dem Bett nieder und blickte sie eindringlich an. »Bist du wirklich sicher, dass du nicht auch ohne Medizinstudium ein zufriedenes Leben führen kannst?«
»Es ist genau das, was ich seit Jacopos Tod tun will.«
»Aber
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