Das Mädchen aus Mantua
Celestina ihm ein wenig zittrig, aber dankbar zulächelte.
Sie zwang sich, weiterzusprechen. »Das Blut der Arterien entsteht aus jenem Teil des venösen Blutes, das zum Herzen fließt und dort, bevor es stoßweise im Takt des Herzschlages in die Arterien strömt, angereichert mit dessen Wärme und Leben, weshalb man es auch Lebensblut nennt. Das Blut fließt von innen nach außen und wird dabei nach und nach aufgebraucht, weshalb Leber und Herz beständig neues bilden müssen.«
Der Professor quittierte ihre Zusammenfassung der Lehre des Galenus mit beifälligem Nicken.
»Nun mag Messèr Harvey seine These vorbringen«, sagte er.
»Ich habe noch zu wenig geforscht«, sagte William verlegen. »Keinesfalls will ich mir anmaßen, die von Galenus begründete anatomische Lehre über die Blutbildung …«
»Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie infrage stellt«, fiel ihm der Professor ins Wort. »Nur zu.«
»Es hängt mit der Blutmenge zusammen«, platzte William heraus. »Niemand hat bisher berechnet, wie viel neues Blut vom Herzen ausgestoßen wird. Setzt man jedoch die Frequenz des Herzschlages ins Verhältnis zur hervorgebrachten Blutmenge …«
»Wie will man das ins Verhältnis setzen?«, rief einer der Studenten dazwischen. »Welche hervorgebrachte Blutmenge ist gemeint?«
»Nun, man kann es nur am blutenden Lebewesen erkennen«, sagte William. »Es muss leben, sein Herz muss schlagen, und es muss eine Arterie verletzt sein, aus der das Blut herausgepumpt wird. Wer schon bei der Schlachtung von Schweinen zugesehen hat, weiß, was ich meine. Man lässt sie ausbluten und fängt dabei das Blut auf …«
»Um Blutwurst zu kriegen«, kam es von den Rängen.
»Sicher. Aber eigentlich will ich darauf hinaus, dass das Blut in einem bestimmten Rhythmus hervorströmt – im Takt des Herzschlages nämlich. Dabei ist es völlig egal, ob es sich um ein Schwein, ein Huhn oder einen Menschen handelt. Das arterielle Blut sprudelt immer im Takt des Herzens heraus, also mit derselben Geschwindigkeit, mit welcher es laut Galenus dort neu gebildet wird.« Er hatte das Herz von den Gefäßen getrennt und hob es vorsichtig aus der Brusthöhle des toten Schweins. »Wenn man nun die schiere Menge, die dabei binnen kürzester Zeit hervorgebracht wird, auffängt und wiegt, so lässt sich daraus errechnen, dass das neu gebildete Herzblut ein Drei- bis Vierfaches vom Körpergewicht eines erwachsenen Menschen betragen muss.« Er hob den Kopf. »Pro Stunde.«
»So viel Blut passt aber in keinen Menschen hinein«, gab jemand zu bedenken. »Und verbraucht werden kann es auch nicht so schnell. Denn sonst wäre ja gar kein Blut da.«
»Eben«, sagte William.
»Dann hat Galenus sich also geirrt?«, kam es provozierend zurück.
»Ausgeschlossen«, protestierte ein anderer.
»Ich bin noch nicht so weit, Schlussfolgerungen zu ziehen«, sagte William.
Celestina sah ihm an, dass er sehr wohl welche gezogen hatte, und sie brannte darauf, mehr darüber zu erfahren.
Unmittelbar nach der Präparation der inneren Organe des Schweins folgte eine Stunde in theoretischer Anatomie in einem Vorlesungssaal des ersten Obergeschosses. Dominiert wurde der große holzgetäfelte Raum von einem kanzelartig aufragenden Katheder. Der Professor zog es jedoch vor, während seiner Vorlesung auf und ab zu gehen und gelegentlich vor einer der großen Schautafeln Vesalius’ stehen zu bleiben, um mit dem Zeigestab Details hervorzuheben, während er dozierte. Er sprach über die Anordnung und Funktion der inneren Organe des Menschen im Zusammenhang mit der Viersäftelehre.
Die Studenten saßen auf Bänken und hörten zu, manche mehr, manche weniger aufmerksam. Celestina hatte zwischen Timoteo und Galeazzo Platz genommen. Beide machten keinen sonderlich konzentrierten Eindruck. Sie selbst saß mit durchgedrücktem Kreuz da und lauschte den Ausführungen des Professors mit einer Verbissenheit, als gelte es ihr Leben, weil sie fürchtete, wichtige Einzelheiten zu verpassen und womöglich dabei ertappt zu werden. Dabei hatte sie das meiste von dem, was der Professor referierte, bereits woanders gehört oder gelesen, sie erfuhr folglich wenig Neues. Doch das focht sie nicht an. Alles, was sie schon wusste, musste sie nicht mehr lernen. Sie konnte es als Rüstzeug für das Examen betrachten.
Der Nacken tat ihr vor Anspannung weh, und nun spürte sie auch wieder die Nachwirkungen des Besäufnisses der vergangenen Nacht. Sie war müde und erschöpft, als
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