Das Mädchen aus Mantua
die Stunde endete und sie gemeinsam mit Timoteo, William und Galeazzo zur Treppe ging. Bis zur nächsten Vorlesung – auf dem Stundenplan stand Pflanzenheilkunde – hatten sie eine kurze Pause. Celestina nutzte die Gelegenheit, William anzusprechen.
»Welche Schlussfolgerungen hast du daraus gezogen?«, wollte sie wissen.
Er wusste sofort, worauf sie hinauswollte, doch er zog nur die Schultern hoch.
»Seine These ist zu innovativ«, meinte Galeazzo grinsend. »Die hoch dekorierten Wissenschaftler würden ihn aus dem Land werfen lassen, wenn er damit herausrückt. Niemand darf auf diese Weise wagen, den heiligen Galenus Lügen zu strafen.«
»Es ist noch keine These«, verbesserte William ihn. »Bisher ist es nur eine … Idee.«
»Ich würde gern davon hören«, sagte Celestina. »Galenus’ Lehren sind nicht sakrosankt. Schon Vesalius hat viele seiner Fehler entlarvt.«
»Welche genau?«, wollte Galeazzo wissen.
William und Celestina setzten gleichzeitig zur Antwort an; der Engländer ließ ihr höflich den Vortritt.
»Er hat durch zahlreiche Sektionen am Menschen nachgewiesen, dass Galenus seine Anatomielehre ausschließlich anhand von Sektionen an Affen und Schweinen verfasst hat, in seinen begleitenden Schriften jedoch die Unterschiede zum Menschen völlig außer Acht ließ.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Timoteo.
»Ich habe De usu partium 4 sowie De iuventamentis membrorum gelesen und mit Vesalius’ Fabrica verglichen. Daneben die aufschlussreichen Schmähschriften von Puteus und Sylvius.«
»Was fandest du daran aufschlussreich?«, erkundigte sich William.
»Sie entlarvten sich selbst, weil sie Gesetzmäßigkeiten postulieren, ohne sie mit eigener Erfahrung belegen zu können. Sie hatten unrecht.«
»Und jetzt sind sie tot«, sagte William lächelnd. »Zu Staub zerfallen wie ihre überholten Ansichten.«
»Magst du mir nun sagen, woher das Blut wirklich kommt?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass es nicht dauernd erneuert und dann aufgebraucht wird, schon gar nicht auf dem Wege von innen nach außen, jedenfalls nicht so, wie Galenus es proklamiert hat.«
»Was geschieht denn dann damit?«
»Es ist ganz einfach da. Es fließt beständig durch die Adern. In einem Kreislauf. Und das Herz ist die Pumpe, die es herumströmen lässt.«
Celestina starrte den Engländer mit offenem Mund an.
»Ich sagte ja, es ist schwer zu schlucken«, meinte Galeazzo belustigt.
William nickte grimmig. »Ich schwöre euch, eines Tages werde ich es beweisen.«
Die Vorlesung in Pflanzenheilkunde fand bei einem zerstreut blickenden, kurzsichtigen Dozenten namens Zirelli statt, der auf dem Katheder stehend aus einem Buch vortrug und sich dabei eine Scherenbrille vorhielt. Celestina hätte sich gern Notizen gemacht, denn seine Stimme klang so gleichförmig, dass der Inhalt seines Vortrags – er sprach über die Anwendungs- und Wirkungsarten der Arnika – darüber beinahe verloren ging.
Sie überlegte, ob sie zu seiner nächsten Vorlesung Wachstafel und Griffel mitnehmen sollte, doch von den übrigen Studenten schrieb niemand mit; die vereinzelt verfügbaren Schreibpulte waren unbenutzt.
Celestina merkte, dass ihr das Denken schwerfiel. Die Stimme des Dozenten wurde zu einem bedeutungslosen Einerlei, sie konnte ihr nicht mehr folgen. Der Kopf tat ihr weh. Die Folgen des gestrigen Kneipenbesuchs plagten sie immer noch. Möglichst unauffällig hob sie die Hände und massierte sich die Schläfen.
Timoteo warf ihr einen Blick von der Seite zu. Flüsternd neigte er sich zu ihr herüber. »Wenn du es verwirrend und langweilig findest und davon überzeugt bist, am Ende der Stunde alles, was er erzählt, wieder vergessen zu haben – kein Grund, sich deswegen den Kopf zu zerbrechen. Man kann das Buch ausleihen, es ist in mehreren Exemplaren vorhanden. Und auf die Besuche des Botanischen Gartens darfst du dich freuen – sie sind viel spannender als die Vorlesungen, und man lernt dabei mehr.«
Sie nickte und lächelte ihn zögernd an.
Unwillkürlich erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung, bei der er ausgesehen hatte wie ein rachsüchtiger wilder Krieger. Sie hatte Angst vor ihm gehabt. Dabei war er bei allem Ungestüm ein umgänglicher Bursche, in manchen Belangen sicher etwas unfertig, aber ohne Frage ein aufrechter junger Mann, der das Zeug hatte, ein guter Arzt zu werden. Während William das Herz mitsamt der anhängenden Gefäße sezierte, hatte Timoteo gebannt zugesehen. Anschließend
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