Das Mädchen-Buch
»starkem Willen« ausgestattet.
Es kann aber auch anders kommen. Mädchen verhalten sich ruhiger, zurückhaltender und schüchterner, als die Eltern sich das wünschen, und andere wiederum sind ihren Eltern einfach zu wild, zu ausgelassen. Wieder andere nutzen ihre musikalischen oder sportlichen Fähigkeiten nicht so, wie die Eltern es sich vorgestellt haben. Manche kommen mit einer Behinderung zur Welt. Und dann?
Manchmal ist es nicht leicht, die Kinder so zu akzeptieren, wie sie sind. Eltern fühlen sich selbst gekränkt oder enttäuscht oder einfach überfordert. Und trotzdem ist es das Wichtigste, dass wir unseren Kindern ein gutes Selbstwertgefühl mitgeben, und das können sie nur entwickeln, wenn wir ihnen immer wieder zeigen, dass wir sie akzeptieren so, wie sie sind, dass wir sie lieben, indem wir sie einfach annehmen. Mädchen, die mit dem Gefühl in die Beratungsstelle kommen: »Ich bin nicht richtig«, »Eigentlich möchten meine Eltern, dass ich anders bin« oder »Warum können sie mich nicht so lieben, wie ich bin?«, sind sehr unglücklich. Sie fühlen sich falsch in der Welt und manche verletzen sich selbst, um sich dafür zu bestrafen, dass sie »falsch« sind. | 45 |
Coach
Häufig ist es uns nicht bewusst, dass wir unseren Kindern Rollen überstülpen oder Wunschvorstellungen in sie hineininterpretieren. Das können wir nur ändern, indem wir uns mit uns selbst auseinandersetzen, mit unserer Erziehung, unserer Kindheit, mit dem, was wir von unseren Eltern mitbekommen haben. Indem wir für uns selbst oder in Gesprächen mit anderen Erwachsenen über uns nachdenken, können wir unsere Haltung kennenlernen und uns anschließend bewusst für oder gegen ein bestimmtes Verhalten entscheiden. Wir können uns fragen: »Wie sollte ich werden?«, »Was möchte ich auf keinen Fall für mein Kind?« oder »Welche meiner heutigen Ängste haben mit meinem Kind gar nichts zu tun?«.
»Wenn wir den Versuch beenden, unsere Kinder gemäß der Vorstellung zu formen, wie sie sein sollten, können wir sie allmählich so sehen, wie sie wirklich sind.«
ANNE WILSON SCHAEF, PSYCHOTHERAPEUTIN | 46 |
Kap04
Sie ist da!
Die ersten zwei Jahre
»D ie da – wir hin und weg« hatten wir auf die Geburtsanzeige unserer Tochter geschrieben. Und so war es auch. Als Jana nach einer langwierigen Geburt endlich auf der Welt war, konnten wir es kaum glauben. Wir waren total fasziniert von ihr. In den ersten Wochen befanden wir uns in vollkommenem Ausnahmezustand. »Eltern stehen erst mal acht Wochen unter ›Geburtsschock‹«, hatte ein Freund von mir gesagt. Sie sind quasi nicht zurechnungsfähig. Und auch das war so. Man kommt zu nichts, an manchen Tagen nicht mal aus dem Bademantel, und alles dreht sich um den neuen kleinen Menschen – den es vorher gar nicht gab und der jetzt mit zu Hause wohnt. | 47 |
»Möge Klein Jana euch viel Freude bereiten …« Die Glückwünsche flatterten ins Haus. Und die Spekulationen über ihr Wesen und ihre Zukunft nahmen so richtig Fahrt auf:
»Das kleine Stupsnäschen ist auf jeden Fall die Nase vom Papa, die Ohren sind genauso spitz wie die von der Mama und die blauen Augen, die sind von Tante Annemarie.« So hat aus der Familie schon mal jeder eine kleine »Aktie« in der Zukunft angelegt. | 48 |
Angezogen sehen Babys aus wie Babys, nicht wie Jungs oder Mädchen. Wenn man das Geschlecht nicht kennt, so kann man höchstens von der Farbe des Stramplers auf die Geschlechtszugehörigkeit schließen. Gratulanten, die vorbeikommen und sich mit freuen, stellen oft Spekulationen über den Lebensweg des neuen Menschen an. Jede Regung, die die kleine Erdenbürgerin macht, ist ein Hinweis auf ihre Zukunft. Meist wird den Kindern eine große Karriere vorausgesagt: Bewegt sie einmal die Finger, so hat sie beste Anlagen, eine berühmte Chirurgin zu werden, verzieht das Mädchen die Mundwinkel, ist ihr eine Erfolgslaufbahn als Kabarettistin beschieden, und dem kleinen Schreihals haben die Gene das Zeug zu einer großen Opernsängerin in die Wiege gelegt.
Solche Zuschreibungen sind in erster Linie witzig. Aber für Eltern besitzen sie auch eine gewisse Aussagekraft. Es hilft, wenn wir über unsere geheimen Wünsche an unsere Kinder Bescheid wissen und sie mit Humor betrachten können. Wenn wir später nicht ernsthaft daran festhalten, sondern unseren Kindern Raum geben, auch auf anderem als dem »geweissagten« Wege glücklich zu werden – sei es als Gabelstaplerfahrerin im Supermarkt oder als
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