Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
sah sie herausfordernd an und stand auf.
Anna reagierte instinktiv. Sie stand ebenfalls auf, beugte sich über den Tisch und versetzte ihm eine kräftige Ohrfeige. »Ich will nie wieder so eine Dummheit von dir hören. Reich werden bedeutet gar nichts. Du musst etwas wollen, das dein Herz erfüllt, oder du wirst innerlich zugrunde gehen.«
Mercurio dachte, dass Anna wohl recht hatte. Glücklich spürte er, wie seine Wange brannte von der ersten Ohrfeige, die er als Sohn erhalten hatte. »Für dich bin ich also etwas Besonderes?«, fragte er sie.
»Komm her, mein Junge«, sagte Anna, und ihre Stimme war heiser vor Rührung. Sie wartete ab, bis Mercurio den Tisch umrundet hatte, dann umarmte sie ihn und hielt ihn fest. Schließlich schob sie ihn brüsk von sich weg. »Du hältst mich auf, weißt du das, mein Junge? Ich habe eine Menge zu tun, ich muss das Feuer schüren, das Haus putzen und dein Zimmer richten … Du willst doch nicht hier auf dem Boden schlafen wie ein Wilder? Und dann muss ich ein ordentliches Essen kochen, und dafür muss ich zum Markt. Ich habe überhaupt keine Zeit für die ganze Philosophiererei.« Sie stieß ihn weg. »Verschwinde. Geh. Los, geh.«
Auf dem Weg zum Anleger der Fischerboote in Mestre pfiff Mercurio vergnügt vor sich hin und berührte ab und zu seine Wange an der Stelle, wo Anna ihn geohrfeigt hatte. Am Hafen angekommen, suchte er nach einem Boot namens Zitella. Als er es gefunden hatte, versetzte er dem Kiel einen Fußtritt, um die Aufmerksamkeit des Fischers auf sich zu lenken.
»He, was soll das!«, rief der Fischer und drehte sich um. Sofort wurde er blass.
»Gut«, sagte Mercurio. »Das bedeutet, du hast mich wiedererkannt, richtig?«
Der Fischer schluckte und nickte stumm.
»Dann wirst du auch wissen, dass ich jetzt zu Scarabellos Männern gehöre und du mich nicht mehr an Zarlino verkaufen kannst?« Mercurio steckte die Daumen in den Gürtel und spuckte ins Wasser.
Der Fischer nickte erneut.
Mercurio sprang ins Boot. »Gut, dann bring mich nach Rialto.«
Der Fischer nickte zum dritten Mal. »Ich belade nur noch mein Boot fertig und …«
»Nein. Jetzt«, unterbrach ihn Mercurio.
Der Fischer zog die Schultern ein und setzte sich an die Dollen.
Mercurio löste die Leinen und stieß das Boot von der Mole ab. Der Fischer wendete es und richtete den Bug gen Venedig.
»Ich habe ein Vorhaben. Und inzwischen denke ich an mein Ziel«, flüsterte Mercurio lächelnd vor sich hin. Dann wandte er sich dem Fischer zu: »Kennst du den Unterschied zwischen einem Vorhaben und einem Ziel, du ungehobelter Kerl?«
»Nein, Herr«, antwortete der Fischer.
»Hat dir deine Mutter das nicht beigebracht?«, fragte Mercurio und lachte frohen Herzens.
33
S himon Baruch ritt durch den Augustusbogen nach Rimini ein. Erschöpft von der Reise durch den Apennin, bewegte sich sein Araberpferd nur langsam vorwärts. Shimon ließ die Zügel ein wenig schleifen und drang weiter in die kleine Stadt ein. Er überquerte die Tiberiusbrücke und erreichte den alten Ortskern. Rechts von ihm sah er in der Ferne den Handelshafen und die Adriaküste mit ihren weißen Sandstränden.
Als er ein Gasthaus mit Namen Hostaria de’ Todeschi erreichte, hielt er an und stieg aus der Kalesche. Sogleich eilte ein Stallbursche auf ihn zu, begrüßte ihn und kümmerte sich um sein Pferd. Shimon betrat das Gasthaus. Der Wirt behandelte ihn freundlich und zuvorkommend. Als er begriff, dass Shimon stumm war, brachte er ihm unverzüglich Papier, Feder und Tinte.
»Aber ich kann nicht lesen, edler Herr«, entschuldigte er sich. »Wenn es Euch nicht stört, es gibt da eine Frau, eine Witwe, die für mich lesen könnte. Aber ich muss Euch sagen, sie ist Jüdin …«
Shimon erstarrte.
»Wenn Ihr die Juden nicht mögt, edler Herr, kann ich das verstehen, und wir werden eine andere Lösung finden«, sagte der Wirt hastig.
Shimon schüttelte den Kopf.
»Also ist Euch diese Frau recht?«, fragte der Wirt.
Shimon nickte.
Der Wirt sagte zu seiner Frau, einem dicken Weib mit hochrotem Gesicht: »Geh und hol Ester. Und sag ihr, sie soll sich beeilen.«
Als er den Namen hörte, zuckte Shimon zusammen. Wie jeder Jude kannte er die Geschichte von Ester, da sie am Purimfest gefeiert wurde. Doch Shimon fühlte sich besonders berührt davon, weil der Name Ester auf Hebräisch unter anderem »Ich werde mich verbergen« bedeutete. Und er versteckte sich. Vor sich und der Welt.
»Ich bin froh, dass Ihr nichts gegen die Juden
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