Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
umgeht. Ich hätte dich selbst großziehen sollen, aber das habe ich nicht getan. So ist es nun mal. Wollen wir unseren Streit jetzt begraben?«
Giuditta hob wortlos eine Braue.
»Bedeutet das Ja oder Nein?«
Giuditta zuckte die Achseln. »Ja.«
»Gut«, knurrte Isacco, den zunehmend das schlechte Gewissen plagte. Er wandte sich wieder zum Gehen um. »Und pass auf, wo du hintrittst«, sagte er barsch. »Ich meine …«, verbesserte er sich sogleich und biss sich auf die Lippen wegen seines rüden Tons, »versuch einfach hinter mir zu bleiben.« Er atmete einmal tief durch. »Also, ich meinte eigentlich … wenn es geht … Na ja, du hast mich schon verstanden, oder?«
Giuditta antwortete nicht.
Isacco drehte sich um.
»Hast du mich verstanden?«
»Ja.«
Sie gingen mehr als eine Meile, ohne dass einer von ihnen ein Wort sagte. Dann verbreiterte sich der Pfad zu einer nicht minder sumpfigen kleinen Straße. Langsam neigte sich die bleiche, vom Nebel verschleierte Sonne dem Horizont entgegen.
Die ganze Zeit über hatte Giuditta nur an eine einzige Frage gedacht, die ihr seit Langem auf der Seele brannte. Eine Frage, die sie im Geiste schon viele Dutzend Male gestellt hatte, seit sie ein kleines Mädchen war.
»Vater …«
Bis jetzt hatte sie nie den Mut gefunden, sie laut auszusprechen.
»Ja?«
Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie ihm diese Frage schon hatte stellen wollen. Aber sie hatte immer Angst gehabt. Angst vor der Antwort. Und Angst davor, das bisschen zu verlieren, was ihr geblieben war.
»Vater …«
»Komm schon, was willst du?«, fragte Isacco auf seine schroffe Art.
Giuditta sah sich um, sah auf diese unbekannte Welt, die ihnen ein neues Leben versprach. Sah auf den Rücken ihres Vaters, der vor ihr herlief. Er war nicht allein fortgegangen, nein, dieses Mal hatte er sie mitgenommen. Giuditta holte tief Luft. Sie fühlte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug.
»Vater, ich muss etwas wissen«, sagte sie dann, mit geschlossenen Augen und zittriger Stimme. Schnell sprach sie weiter, ehe die Angst sie überwältigen konnte: »Bist du böse auf mich, weil ich meine Mutter getötet habe? Ist das der Grund, warum ich bei meiner Großmutter aufgewachsen bin und dich nie gesehen habe?«
Isacco hatte sich gerade zu ihr umdrehen wollen, aber diese Frage traf ihn unvorbereitet. Er krümmte den Rücken wie unter einem heftigen Schlag. Ihm fehlte die Kraft, sich seiner Tochter zuzuwenden, seine Kehle war wie zugeschnürt. »Gehen wir weiter«, brachte Isacco mühsam heraus. »Bald wird es dunkel sein und … Komm schon, lass uns weitergehen.« Er machte ein paar Schritte, dann fing er an, mit heiserer Stimme zu sprechen, allerdings immer noch, ohne seine Tochter anzusehen, die ihm mit gesenktem Kopf folgte. »Deine Mutter … ist im Kindbett gestorben. Nicht du hast sie getötet. Das ist … ein gewaltiger Unterschied … Und ich hoffe, du kannst das tief in deinem Innern begreifen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass … Ich war nie da, weil … Na ja, mein Leben war nicht gerade … Also, ich hab dir ja davon erzählt, ein wenig jedenfalls … Aber du bist nicht bei deiner Großmutter aufgewachsen, weil ich dich nicht sehen wollte, sondern weil ich ihr vertraut habe … und weil du … du …« Isacco brach ab. Er spürte seine Tochter hinter sich und war sich bewusst, dass sie den Atem anhielt. Erst jetzt sah er sie, die er immer für so unabhängig gehalten hatte, als das, was sie wirklich war: ein kleines Mädchen, das mit dem Gedanken aufgewachsen war, sein Vater würde es hassen. »Ich weiß nicht, wie ich so dumm sein konnte …«, sagte er leise und tat nur einen halben Schritt. »Ich weiß es wirklich nicht!«, schrie er dann beinahe und blieb abrupt stehen.
Giuditta hinter ihm hielt ebenfalls inne und streckte, um nicht auf ihn zu prallen, eine Hand aus, mit der sie sich an seiner Schulter abstützte. Als sie merkte, wie Isacco unter ihrer Berührung zusammenschrak, zog sie die Hand hastig wieder weg, als würde der Rücken ihres Vaters glühen, und flüsterte: »Verzeih mir.«
»Nicht doch …«, sagte Isacco.
Beide blieben reglos stehen. Isacco war immer noch unfähig, sich umzuwenden.
»Ich habe dir doch erzählt, dass mein Vater Arzt war …«, hob Isacco schließlich an in dem Wissen, dass ihn dieses Gespräch mit einem Schmerz konfrontieren würde, dem er sich nicht hatte stellen wollen. »Ein guter Arzt war er, der beste auf der Insel Negroponte. Der Leibarzt des
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