Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
ist?«, fragte ihn Scarabello. »Hast du noch nie etwas davon gehört?«
»Nein. Warum?«
Die beiden Männer an den Rudern lachten höhnisch.
Das Boot glitt wieder auf den Canal Grande hinaus, durchquerte die Bucht von San Marco, und als sie in der Gemeinde von San Giovanni in Bragora angekommen waren, legten sie an der Darsena Vecchia an. Das Wasser des alten Hafenbeckens roch streng nach Petroleum. Dicke Ölflecken schimmerten glänzend auf der Oberfläche, ohne sich mit dem Wasser zu vermischen, und färbten die Algen, mit denen sie in Berührung kamen, schwarz.
»Das Arsenal von Venedig ist die größte Schiffswerft der Welt. Dort arbeiten fast zweitausend Männer. Weißt du, wie viel zweitausend Männer sind? In Kriegszeiten sind es sogar dreitausend«, sagte Scarabello, und in seiner Stimme lag ein seltsamer Stolz. »Das ist der bestbewachte Ort in ganz Venedig.«
Mercurio folgte ihm ans Ufer. Nach wenigen Schritten hielt Scarabello an und deutete mit dem Finger nach vorn. »Das hier ist die Porta di Terra, das Tor zur Landseite«, erklärte er.
Durch die dünne Dunstschicht, die vom Wasser aufstieg, erkannte Mercurio ein großes Portal. Es erinnerte ihn an einige Triumphbögen in Rom, die allerdings schon uralt waren, während das hier neu aussah. Rechts davon stand ein quadratischer Wachturm, und zu beiden Seiten erhoben sich hohe, dicke Mauern aus rotem Backstein. Zwei bewaffnete Soldaten bewachten den Zugang.
»Mein Vater war ein Arsenalotto, so heißen die, die im Arsenal arbeiten«, sagte Scarabello, und Mercurio bemerkte eine Spur von Traurigkeit in seiner Stimme. »Oder besser gesagt, die das Vorrecht haben, im Arsenal arbeiten zu dürfen. Aber der Dummkopf wurde dabei erwischt, wie er ein Stück Seil mitgehen ließ.« Scarabello schüttelte den Kopf. »Das Arsenal bietet seinen Arbeitern große Vorteile«, fuhr er fort. »Die Arsenalotti werden auf Lebenszeit von der Serenissima versorgt, und ihre Söhne erhalten von Geburt an ebenfalls das Privileg, später dort zu arbeiten. Doch im Arsenal herrscht das Kriegsrecht. Nach der Schandtat meines Vaters wurden meine Mutter und ich aus unserem Haus gejagt und in dieser verfluchten Stadt unserem Schicksal überlassen. Meine Mutter begann daraufhin … Nun ja, du kannst dir wohl vorstellen, welcher Arbeit eine Frau dann nur nachgehen kann. Aber sie hatte schwache Lungen, und im darauffolgenden Winter starb sie an Schwindsucht. Und ich wurde zu dem, der ich jetzt bin.« Er starrte auf die Porta di Terra. »Ich habe es niemals bedauert. Hätte man meinen Vater nicht erwischt, wäre ich heute wahrscheinlich ein Arsenalotto und würde mir den Buckel krumm schuften, um für ein paar Soldi Schiffe zu bauen. Und vielleicht würde ich mich sogar noch glücklich schätzen. Das Leben ist schon seltsam.« Scarabello betrachtete Mercurio. Er hob ein Stück Holz auf und zeichnete die Umrisse des Arsenals mit den Mauern und der Porta di Terra in den Dreck auf dem Boden. Dann markierte er einen Punkt mit einem Kreuz. »Die Segellager sind hier, auf der Südseite der Darsena Nuova, des neuen Hafenbeckens. Das weiß ich, weil ich meinen Vater oft bei der Arbeit besucht habe und er ganz in der Nähe beschäftigt war, in der Tana, der Lagerhalle südlich von den Segelwerkstätten.« Er markierte noch eine Stelle direkt am Rand der Umfassungsmauer. »Da ist das öffentliche Hanflager, jede Menge Leute gehen dort ständig ein und aus. Dort wirst du Taue und Seile in allen Größen finden. Ich an deiner Stelle würde mich dorthin verziehen, sobald du die beiden Groß-Oberbramsegel geklaut hast. Wenn man dich dann aufhält, kannst du immer noch sagen, dass dich dein Proto geschickt hat und du den Durchmesser zum Beschlag der Zeising überprüfen musst, weil die anderen alle ausgerissen sind.«
»Proto … Anschlag … Reisig …«, wiederholte Mercurio angestrengt.
»Das lernst du noch«, sagte Scarabello grinsend und zeichnete einen Kanal auf der anderen Seite der Mauer. »Das hier ist der Rio della Tana.« Er zeigte nach rechts. »Der dort drüben. Und er geht direkt aufs offene Meer. Auf der Rückseite der Tana gibt es eine Treppe. Als kleiner Junge bin ich immer dort hochgeklettert und dann auf die Umfassungsmauer gesprungen. Das ist ein ziemlich weiter Satz, aber du schaffst das schon. Sobald du dann oben auf der Mauer bist, springst du in den Kanal. Such dir jemanden, der ein Boot hat und dort nicht auffällt, vielleicht einen Fischer. Und schon hast du es geschafft.
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