Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
nicht wie bei ihnen zum Platz, sondern zum Kanal hin lag. Ihr Fenster zur freien Welt außerhalb des Ghettos war zugemauert worden, ganz so, wie es in der Verlautbarung geheißen hatte. Und jedes Mal wenn sich diese fünfköpfige Familie an den Tisch setzte, starrten alle auf den Putz und die Ziegelsteine, die das Fenster versperrten. Lebendig eingemauert, dachte Giuditta.
»Ich bringe dich von hier fort!«, hatte Mercurio am ersten Abend gerufen, als man sie hier eingeschlossen hatte.
Giuditta hatte seine Stimme immer noch im Ohr. Jeden Tag sah sie zur Brücke und hoffte darauf, ihn wiederzusehen. Sie wartete auf ihn. Aber Mercurio war nie wieder dort erschienen, nicht einmal tagsüber, wenn man das Ghetto ungehindert betreten konnte. Er hatte sich überhaupt nicht mehr blicken lassen. Und wann immer Giuditta darüber nachdachte, stieg dumpfe Wut in ihr auf, Groll und ein Gefühl der Demütigung. Bestimmt küsst Mercurio gerade seine Benedetta, sagte sie sich dann. Und gewiss lachten die beiden über sie und ihre Dummheit.
Du bist eine Närrin, dachte sie verärgert.
Dennoch wanderte ihre Hand dann zu dem Taschentuch, das sie immer bei sich trug. Zu dem Stück Stoff, auf dem sich bei ihrer ersten Begegnung ihrer beider Blut vereinigt hatte, auf dem ihr »Pakt«, wie Giuditta es insgeheim nannte, aufgesetzt worden war. Der Pakt, den das Schicksal selbst geschlossen hatte.
Du bist eine armselige Närrin, dachte sie noch einmal wütend.
Da klopfte es an der Tür.
Giuditta zuckte zusammen, jäh aus ihren Gedanken gerissen. »Wer ist da?«, fragte sie vorsichtig.
»Ich bin’s, wer soll es denn sonst sein?«
Giuditta ging zur Tür, öffnete sie und warf sich Donnola in die Arme, der wie jeden Tag Isacco besuchen kam.
»He … ganz ruhig … Was soll denn diese Vertraulichkeit?«, wehrte Donnola sie verlegen lächelnd ab.
»Er ist betrunken«, sagte Giuditta und brach in Tränen aus.
Donnola zuckte zusammen und wusste nicht, was er erwidern sollte.
»Es geht ihm schlecht, und ich weiß nicht mehr weiter …«, schluchzte Giuditta. »Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann …«
Donnola fasste sie bei den Schultern, schob sie auf Armeslänge von sich weg und sah ihr ernst in die Augen. »Na gut, dann werd ich ihm mal was erzählen.«
Giuditta ließ mutlos den Kopf hängen.
Donnola ging auf die Tür von Isaccos Zimmer zu, öffnete sie schwungvoll und verschwand dahinter. »Steht auf, Doktor!«, sagte er energisch. »Was muss ich da von Eurer Tochter hören?«
»Mach, dass du fortkommst, Donnola!« Man hörte den Aufprall von etwas, das wohl durch den Raum geworfen worden war, und ein unterdrücktes Stöhnen.
Kurz darauf kam Donnola mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Zimmer und rieb sich ein Bein. »Er muss sich erst mal beruhigen«, sagte er leise zu Giuditta.
»Und mach gefälligst die Tür zu!«, brüllte Isacco.
Donnola fuhr zusammen und gehorchte ihm rasch. Er lächelte Giuditta verlegen an. »Man muss den richtigen Weg finden, mit ihm zu reden …«, stammelte er. »Ist eben eine Frage der Strategie, verstehst du?«
Giuditta nickte, nahm sich einen ihrer selbst genähten gelben Hüte und setzte ihn auf. »Ich gehe ein wenig spazieren«, sagte sie.
»Siehst du, das ist eine ausgezeichnete Idee«, sagte Donnola. »Eine ganz ausgezeichnete Idee!«
Giuditta öffnete die Wohnungstür. Etwas unsicher drehte sie sich zu Donnola herum.
»Los, nun geh schon und amüsier dich ein wenig«, ermutigte Donnola sie mit falscher Begeisterung. Er war mit dieser Situation mindestens ebenso überfordert wie sie.
Giuditta ging hinunter durch das enge, dunkle Treppenhaus, in dem es nach Schimmel roch. Die Haustür stand offen, und so fand sie sich gleich unter den schmalen Bogengängen des Platzes zwischen den beiden Pfandleihen wieder.
Jenseits des Tores zum Ghetto Nuovo hörte man laut die inzwischen vertraute Stimme des Mönches, der jeden Tag hartnäckig seinen Hass gegen die Juden predigte. Derselbe Mönch, den ihr Vater und sie in dem Gasthaus bei Adria getroffen hatten, kurz nachdem sie an Land gegangen waren. Als ob er sie verfolgte.
»Der Herr hat zu mir gesprochen«, schrie Bruder Amadeo. »Erhöre mich, Venedig! Jetzt, wo du sie eingesperrt hast, schau sie dir an! Sie sind eine Plage! Sie sind ein Krebsgeschwür! Sie sind die Zauberer und Hexen des Teufels!«
Giuditta senkte den Kopf und versuchte, die unangenehme Stimme aus ihrem Kopf zu verbannen.
Sie atmete tief durch und sog die feuchte Luft
Weitere Kostenlose Bücher