Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
Der Fischer sammelt dich auf, und dann verschwindet ihr.« Scarabello grinste und verwischte mit der Stiefelspitze die Zeichnung im Straßendreck. »Was sollte das Gerede von dem Schiff? Wieso hast du den Reeder danach gefragt?«
»Eines Tages will ich ein eigenes Schiff haben«, antwortete Mercurio leidenschaftlich.
Scarabello zog eine Augenbraue hoch.
Und wieder kam sich Mercurio wie ein Dummkopf vor.
»Denk dir lieber einen Plan aus, wie du ins Arsenal kommst.« Scarabello gab Mercurio einen Klaps auf die Wange und wandte sich zum Gehen. »Und zwar schnell.«
»Was wurde aus deinem Vater?«, fragte Mercurio.
Scarabello blieb stehen, dann drehte er sich um. »Man hat ihn wegen Hochverrats verurteilt und in der Lagune ertränkt.«
»Ertränkt …?«, fragte Mercurio leise.
»Das ist die saubere Methode der Serenissima. Schau dich doch um. Wasser gibt es genug.«
Mercurio spürte, wie die Angst ihm langsam die Kehle zuschnürte.
39
G iuditta stand vom Tisch auf, an dem sie seit mehr als vier Stunden gesessen und mit gesenktem Kopf genäht hatte. Ihre Finger schmerzten, und die Kuppe des linken Zeigefingers war von den vielen Stichen rot und geschwollen. Vor ihr auf dem Boden und auf dem Tisch lag etwa ein Dutzend unterschiedlich geformter Kopfbedeckungen. Sie waren aus Stoffen in sämtlichen Gelbschattierungen gefertigt. Giuditta spähte in das Zimmer ihres Vaters. Isacco lag auf dem Bett und hielt sich den Kopf, wie schon seit Tagen. Der Tod Mariannas, der Geliebten von Hauptmann Lanzafame, hatte ihn in tiefe Trauer gestürzt. Giuditta hatte hilflos zusehen müssen, wie er trinkend immer weiter in Trübsal versank. Am Fußende des Bettes sah sie eine Flasche Wein. Möglichst leise schlüpfte sie ins Zimmer und nahm die Flasche an sich.
»Lass sie stehen«, knurrte Isacco, ohne sich zu ihr umzudrehen.
»Das tut dir nicht gut, Vater …«
»Lass sie stehen!«
Giuditta zuckte zusammen. Sie war es nicht gewohnt, so angefahren zu werden, und unterdrückte die Tränen, die ihr in die Augen steigen wollten. Rasch stellte sie die Flasche auf dem Fliesenboden ab. »Du wirst noch wie der Hauptmann …«
Isacco fuhr mit grimmigem Gesichtsausdruck herum. »Kann man in diesem Haus denn nie seine Ruhe haben?«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
Eingeschüchtert wich Giuditta einen Schritt zurück.
Isacco streckte den Arm nach der Flasche aus, packte sie und schwenkte sie durch die Luft. »Kann ich deswegen keine Ruhe haben?«
Giuditta wich weiter zur Tür zurück.
»Ist es deswegen?«, schrie Isacco und warf die Flasche gegen die Wand. Das Glas zerbrach, und an der Wand und auf dem Fußboden bildeten sich rote Flecken. »Bitte schön! Problem gelöst!« Isacco richtete seinen Zeigefinger drohend auf Giuditta. »Und wag es ja nicht, die Scherben aufzuheben und hier sauber zu machen. Raus!« Dann warf er sich wieder auf sein Lager und vergrub den Kopf zwischen seinen Händen.
Giuditta verließ erschrocken das Zimmer. Sie schloss die Tür und trat an das kleine Fenster, das auf den Hauptplatz des Ghetto Nuovo ging. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht loszuweinen.
»Ich bitte dich um Hilfe, Ha-Shem «, flehte sie leise. »Wenn ich meinen Vater verliere …«, sie unterdrückte ein Schluchzen, »habe ich niemanden mehr.«
Giuditta spürte, wie Angst und Verzweiflung sie zu überwältigen drohten. Sie drehte sich um und betrachtete die armselige Wohnung, in der sie nun lebten. Die Decken waren so niedrig, dass man instinktiv gebückt darin umherging. Enge Räume, verrottete, knarrende Fußböden und so winzige Fenster, dass kaum Luft hereindrang, selbst wenn man sie ständig geöffnet ließ. Es gab insgesamt nur zwei Zimmer zum Schlafen, Kochen und Essen. Eine schäbige Wohnung, genau wie alle anderen, in denen die Juden nun leben mussten, eine über der anderen, in demütigender Enge und zu einem Mietzins, der deutlich höher war als bei den Christen, die vorher hier gewohnt hatten.
Durch das kleine Fenster sah Giuditta zwei Kinder auf dem Hauptplatz spielen, und hinter ihnen eines der beiden Tore, die am Abend mit einem dumpfen hölzernen Dröhnen zufielen und mit jenem kreischenden Geräusch der Riegel verschlossen wurden, das die Seele erschaudern ließ.
Sie musterte die Mauern aus schlecht zusammengefügten roten Backsteinen, die in aller Eile rund um das Viertel hochgezogen worden waren, um sie hier wie Vieh eingepfercht zu halten. Sie dachte an die Familie nebenan, deren Wohnung
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