Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
viel sie Carnacina wohl schuldete. Doch im Grunde war diese Frage sinnlos. In den letzten Tagen hatte er feststellen müssen, dass sein Geld beinahe aufgebraucht war, und vor allem, dass er nicht wusste, wie er sich neues beschaffen sollte.
Als er an der Tür klopfte, öffnete ihm Ester mit einem Lächeln auf den Lippen. Doch Shimon sah, dass ihre Augen vom Weinen gerötet waren. Er verbrachte den Abend bei ihr, doch ehe er sich von ihr verabschiedete, nahm er, beinahe unbewusst, ein großes Messer mit, das Ester benutzte, um den Aalen die Köpfe abzuschneiden. Er küsste sie zärtlich auf die Lippen und wandte sich in Richtung Hostaria de’ Todeschi. Sobald er hörte, dass Ester die Tür geschlossen hatte, drehte Shimon sich um und machte sich auf den Weg zu Carnacinas Haus.
Als er vor dem Gebäude stand, bemerkte er hinter einem Fenster im ersten Stockwerk einen flackernden Lichtschein. Bestimmt saß Carnacina dort und zählte sein Geld. Shimon fragte sich, warum eigentlich christliche Pfandleiher nicht ähnlich verrufen waren wie die jüdischen. Dann kletterte er über die Umfassungsmauer in den Garten. Er kauerte sich in eine Ecke und lauschte aufmerksam, ob ihn jemand bemerkt hatte. Doch niemand kam, um nachzusehen. Über Garten und Haus lag eine tiefe Stille. Shimon näherte sich dem Rosenstock, den Carnacina so liebevoll gepflegt hatte, und metzelte ihn mit kalter Grausamkeit bis auf die Wurzeln nieder. Ohne auf die Dornen zu achten, packte er einige der Rosen, schlug sie mehrfach auf die Erde und wandte sich dann mit dem Strauß geknickter Blumen dem Haus zu.
Er brach das Schloss der nicht besonders schweren Gartentür auf und trat vorsichtig ein. Alles lag im Dunkeln, der Diener musste schon zu Bett gegangen sein. Da sah er die Treppe, die nach oben führte, und stieg sie leise hinauf. Auf dem Absatz des ersten Stockwerks blieb er stehen und lauschte aufmerksam. Als seine Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, sah er unter der Tür zu seiner Rechten flackernden Kerzenschein. Entschieden ging er darauf zu.
Doch in dem Moment waren aus dem Erdgeschoss schlurfende Schritte zu hören, und im zitternden Licht einer Kerze sah Shimon den alten Diener näher kommen. Der Diener bemerkte, dass die Tür zum Garten offen stand, ging darauf zu und hielt die Kerze prüfend an das Schloss.
Shimon umklammerte das Messer.
Der Diener sah nach oben zum Treppenabsatz, dann wieder zur Tür und noch einmal nach oben. Schließlich schloss er die Tür und stieg stöhnend die Stufen hinauf.
Shimon drückte sich in eine dunkle Ecke und hielt den Atem an.
Der Diener ging zu der Tür neben der Nische, wo Shimon mit hoch erhobenem Messer stand, klopfte leise und öffnete sie.
»Was willst du?«, knurrte Carnacina aus dem Zimmer.
»Geht es Euch gut, Herr?«, fragte der Diener.
»Sehr gut, du hässliche Unglücksfratze. Verschwinde«, krächzte Carnacina mit seiner unangenehmen Stimme.
Der Diener verließ das Zimmer mit einer demütigen Verbeugung und wollte gerade die Tür schließen. Doch dann bemerkte er eine Rosenknospe auf dem Boden und hob sie auf. Unschlüssig drehte er sie in seinen Händen und warf dann noch einen Blick ins Zimmer.
»Mach die Tür zu!«, herrschte Carnacina ihn an.
Der Diener, der es gewohnt war, wie ein Hund behandelt zu werden, schloss die Tür. Im Schein seiner Kerze sah er ein Rosenblatt auf dem Läufer, und während er es aufhob, entdeckte er ein weiteres. Als er einen Schritt vortrat, fiel der Lichtschein auf ein Paar Schuhe. Schnell hob er die Kerze, genau in dem Augenblick, als Shimon die Hand mit dem Messer auf ihn niedersausen ließ.
Shimon versenkte jedoch nicht die Klinge in seinen Hals, sondern hieb ihm nur den Griff brutal gegen die Schläfe. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er im entscheidenden Moment die Hand weggedreht hatte.
Der Diener fiel bewusstlos zu Boden.
Shimon schnellte vor und öffnete die Tür zu dem Raum, in dem sich Carnacina aufhielt. Flink schlüpfte er hinein und zog die Tür hinter sich zu.
Carnacina, der mit dem Rücken zu ihm an seinem Schreibtisch saß, ließ verärgert die Hand auf die lederüberzogene Tischplatte sausen und fragte mit seiner krächzenden Stimme: »Was willst du denn noch, du Dummkopf?«
Shimon ging weiter, bis er direkt hinter Carnacina stand, und sah auf dessen Nacken mit den rosigen Fettwülsten hinab.
Wutentbrannt drehte sich der Pfandleiher um.
Shimon hielt ihm den Strauß geknickter Rosen hin.
Carnacina riss
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