Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
aus geringerer Entfernung.
Mercurio rannte los, sprang mit einem Fuß auf den Fenstersims, presste sich das Segel an die Brust, schloss die Augen und schrie aus voller Kehle los. Er landete auf dem Umlaufgang, prallte gegen die Zinnen, rappelte sich auf, und ohne einen weiteren Blick auf die Wachen zu verschwenden sprang er blindlings weiter. Im Flug öffnete sich das Segel und verlangsamte seinen Fall. Mercurio landete klatschend halb im Boot und halb im Wasser. Durch den Aufprall wurde die Luft so heftig aus seinen Lungen gepresst, dass er beinahe die Besinnung verlor.
»Halt!«, riefen die beiden Wachen von oben auf der Mauer.
Tonio und Berto saßen schon an den Riemen und ruderten mit aller Kraft. Battista hatte inzwischen Mercurio an Bord gezogen.
»Holt auch das Segel ein!«, schrie Tonio. »Wir werden zu langsam!«
Ein Pfeil aus einer Armbrust, den eine Wache abgeschossen hatte, bohrte sich in das Heck des Bootes. Battista ließ erschrocken das Groß-Oberbramsegel fallen, das er schon beinahe an Bord gezogen hatte. Es entrollte sich und versank wieder im Wasser.
»Verdammt noch mal, zieht es an Bord!«, brüllte Tonio, während er verbissen weiterruderte.
Doch Mercurio war vom Aufprall immer noch wie betäubt. Er beugte sich vor, um das Segel zu retten, aber seine Hände waren zu geschwächt und langsam. Battista hatte sich zitternd vor Furcht auf dem Boden seines Schiffes zusammengekauert.
»Battista! Hilf mir doch, ich schaffe es nicht allein!«, schrie Mercurio.
Der senkte den Kopf und wich seinem Blick aus, wie schon bei ihrer ersten Begegnung, als Zarlino Mercurio und Benedetta ausrauben wollte.
»Du Feigling!«, schrie Mercurio wütend.
Ein weiterer Pfeil bohrte sich ins Heck des Bootes, direkt neben Mercurio. Doch der gab nicht auf, beugte sich über den Rand und versuchte, das Segel heranzuziehen. Da wurde er durch ein plötzliches Rudermanöver der beiden Brüder über Bord geschleudert. Mercurio konnte sich gerade noch am Steuer festklammern, doch das Segel entglitt langsam seinen Händen.
»Battista!«, schrie er völlig verzweifelt. »Battista, bitte!«
Da reagierte der Fischer mit einem Mal. Er stand auf, beugte sich zum Heck hinüber und packte ihn, als er ein leises Sirren in der Luft vernahm. Battista erstarrte, und Mercurio hing zwischen Wasser und Boot.
»Battista …!«, rief Mercurio kraftlos.
Die Augen des Fischers waren weit geöffnet. Er sah Mercurio beinahe erstaunt an. Dann zog er ihn mit zusammengebissenen Zähnen ins Boot. Mercurio beugte sich vor und half Battista mit dem Groß-Oberbramsegel.
»Schneller! Schneller!«, schrie Tonio, als sie beinahe die Biegung des Rio della Tana erreicht hatten. »Wir haben es fast geschafft!«
Mercurio zog mit aller Kraft. Er sah, wie Battista langsamer wurde. »Komm schon, Battista! Verdammt, lass jetzt nicht nach!«
Battista schien seinen Rhythmus wiederaufzunehmen, wurde aber dann erneut langsamer.
»Los, komm schon, verdammt!«, trieb ihn Mercurio an.
Doch dann sah er, wie sich das Groß-Oberbramsegel rot färbte.
»Nein, Battista!«, schrie er entsetzt, und seine Stimme brach. Er zog den letzten Zipfel des Segels an Bord, der vollkommen von Blut durchtränkt war. Battista fiel rücklings auf den Boden seines Bootes, das inzwischen mit rasanter Geschwindigkeit vorwärtsglitt.
»Battista … nein …«
Der Fischer schnappte mühsam nach Luft. »Wir … haben es … geschafft«, flüsterte er.
Mercurio sah den Pfeil, der Battistas Brustkorb seitlich durchbohrt hatte.
»Hast du gesehen … Mercurio …«, stammelte Battista. Er wurde von den heftigen Ruderzügen der Brüder hin und her geschleudert, während das Boot sich allmählich den Blicken seiner Verfolger entzog. »Hast du gesehen? Ich bin … kein … Feigling«, sagte er und suchte Mercurios Hand. »Ich bin kein …«
Mercurio spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen.
»Nein … du bist kein Feigling«, sagte er und versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken. »Du bist ein mutiger Mann …«
Auf Battistas Gesicht erschien ein trauriges, entrücktes Lächeln, dann erstarrten seine Augen, während sein Blut sich mit dem der Fische auf dem Boden der Zitella vereinte.
50
W arum darf er glücklich sein?, hatte sich Shimon Baruch bis zu dem Tag gefragt, an dem er in Esters Armen geweint hatte. Diese einfache Frage hatte ihm die Kraft und die Entschiedenheit verliehen, seinen Wunsch nach Rache an Mercurio aufrechtzuerhalten. Denn diese Frage besagte vor
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