Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
allem eines: Im Gegensatz zu dem Jungen war er unglücklich. Schrecklich unglücklich.
Doch zugleich hatte sich an jenem Tag der andere Teil seiner Überlegungen in nichts aufgelöst, war wie ein Knoten geplatzt. Als die Tränen auf Shimons Wangen getrocknet waren, hatte er sich zwar aus Gewohnheit wieder gefragt: Warum darf er glücklich sein?, aber dabei hatte er plötzlich gespürt, dass er selbst es ebenfalls war. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben.
Glücklich …, dachte er erstaunt.
In den folgenden Tagen hatte Shimon viel nachgedacht. Mercurio hatte ihn in tiefste Verzweiflung gestürzt, ihn in einen finsteren Abgrund gestoßen, ihn schwindelerregende Angst durchleben lassen, wie er sie niemals zuvor erfahren hatte. Beinahe hätte Shimon durch ihn, durch sein Messer, das sich in seine Kehle gebohrt hatte, nicht nur all sein Geld, sondern sogar sein Leben verloren. In jedem Fall hatte er durch Mercurios Hand seine Stimme verloren. Und vor allem hatte er sich selbst verloren.
Doch dann, so überlegte Shimon weiter, während er am Meeresufer saß und die Gischt der Wellen unter einem bleiern verhangenen Himmel beobachtete, hatte ihm dieser tiefe Fall gezeigt, dass er gar nicht so schwach war, wie er geglaubt hatte. Er war ganz im Gegenteil ein starker Mann. Er hatte sich wieder aus dem Nichts erhoben. Dieser Fall hatte seine wahre Natur hervorgebracht. Shimon war jetzt ein Mensch, der niemals zu seinem alten Leben gepasst hätte. Vielleicht war er nicht gerade ein besserer Mensch nach dem Gesetz Gottes und dem seines Volkes geworden. Doch Shimon kümmerte es nicht, ein besserer Mensch zu sein, diese moralischen Kategorien zählten für ihn nicht mehr. Er hatte erkannt, dass er stark war, ja, stärker sogar, als er jemals geglaubt hatte. Nun konnte ihn zwar noch der Schmerz niederwerfen, aber nicht mehr die Angst. Sein Leben als Feigling war an dem Tag beendet, an dem er die Klinge in seiner Kehle gespürt hatte.
In gewisser Weise hatte Mercurio ihn tatsächlich getötet, denn Shimon Baruch der Feigling war nun tot. Doch wer war Mercurio für ihn? Ein Mörder? Oder eine Art Wohltäter, der mit der Brutalität eines Mörders vorging?
Shimon stand auf und klopfte sich den Sand aus den Kleidern. Er wandte sich nach Rimini. Dorthin, wo Esters Haus stand, der Ort, an dem er Glück empfinden konnte. Er erreichte die Straße, setzte sich auf einen Meilenstein und zog die Schuhe aus: Er befreite auch sie vom hellen, feinen Sand und beobachtete, wie er zu Boden rieselte wie in einer Sanduhr. Shimon atmete tief durch. Dann hob er eine Hand an die Kehle und fuhr mit der Kuppe des Zeigefingers über die wulstige Narbe von der Münze, mit der er die Wunde kauterisiert hatte. Er konnte die Lilie von der Oberfläche des Goldstücks ertasten, das er sich glühend in sein Fleisch gepresst hatte. Er erinnerte sich daran, dass er in jenen Tagen keinen Schmerz empfinden konnte und nicht einmal fähig war, seinen Rachegefühlen Ausdruck zu verleihen. Aber er erinnerte sich auch an das berauschende Gefühl der eigenen Stärke, der eigenen Grausamkeit. Und daran, dass er jegliche Angst verloren hatte. Schon da hätte ihm eigentlich bewusst sein müssen, welches Glück ihm widerfahren war.
Aber damals warst du noch zu jung, dachte er, während der Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen erschien. Du warst erst wenige Tage alt. Dann stieß er ein Glucksen aus. Und obwohl es unangenehm klang, vernahm Shimon es dennoch voll freudiger Verwunderung.
Er hatte gelernt zu weinen.
Und jetzt lernte er sogar zu lachen.
Er probierte es noch einmal aus, wie ein kleiner Junge, der versucht zu pfeifen. Und während er zu Esters Haus lief, machte er verstohlen weiter und stieß aus seinem stumm gewordenen Mund diesen misstönenden Laut aus, indem er das Zwerchfell zusammenzog und mit den Schultern zuckte.
Als er vor Esters Haustür stand, dachte er, dass er ihr gern von Mercurio erzählt und seine Überlegungen mit ihr geteilt hätte. Deshalb zögerte er noch ein wenig, an ihre Tür zu klopfen. Doch dann hörte er im Haus eine Männerstimme, die ihn augenblicklich aus seinen Gedanken riss. Schnell zog Shimon die Hand zurück und trat einen Schritt nach hinten. Der Ton der Stimme gefiel ihm gar nicht. Vielleicht lag es aber auch daran, dass es ihm überhaupt missfiel, eine Männerstimme in Esters Haus zu hören.
Shimon blickte sich um, konnte aber niemanden sehen. Vorsichtig ging er um das Haus herum und spähte durch die Fenster
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