Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
irrst du dich«, sagte Mercurio düster und senkte die Augen wieder auf das fleckige Holz der Tischplatte. »Ich bin auf der Flucht, weil … weil ich jemanden umgebracht habe.«
Schweigen senkte sich über den Raum.
»Das glaube ich nicht«, sagte Anna schließlich.
»Das solltest du aber.«
Anna nahm sein Gesicht in ihre Hände und sah ihm lange in die Augen. Dann sagte sie noch bestimmter als vorher: »Das glaube ich nicht.«
Mercurio öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Doch dann wurde er von einem heftigen Gefühl übermannt, das ihn schier zerreißen wollte. Und endlich brach er in Tränen aus und weinte voller Verzweiflung. Er schrie und weinte zugleich, jetzt strömten die Tränen, die er bisher weder für Battista noch für den jüdischen Kaufmann in Rom hatte vergießen können. Er beweinte auch den Säufer, der in den Abwasserkanälen gegenüber der Tiberinsel ertrunken war. Er weinte, weil er nie eine Mutter gehabt hatte und sich erst jetzt bei Anna erlauben konnte, auf jenen unendlichen Schmerz zu hören, auf diese Leere, diesen Abgrund, der in seinem Herzen klaffte.
»Erzähl mir alles«, sagte Anna liebevoll und strich ihm übers Haar, als Mercurio nicht mehr von Schluchzern geschüttelt wurde.
Mercurio umarmte sie und presste sich an ihren warmen, schützenden Leib. Er drückte sie heftig an sich und durchnässte ihr Gewand mit seinen Tränen. »Nicht jetzt«, flüsterte er. »Ich kann nicht …«
Anna küsste ihn auf die Stirn. »Ich bin immer für dich da«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Dann stand sie auf. »Komm, gehen wir ein wenig hinaus. Mir hat es immer gutgetan, die Wiesen, die Bäume und den Himmel zu betrachten. Ich schaue sie an, und schon fühle ich mich nicht mehr ganz so einsam.«
Mercurio lachte heiser auf. »Das klingt ganz schön dumm …«
»Los, gehen wir«, wiederholte Anna und zog ihn hoch.
Mercurio stand schwankend auf, wischte sich das Gesicht mit einem Ärmel ab und folgte Anna nach draußen.
Die Frau führte ihn hinters Haus, wo im Garten ein wenig verkümmertes Gemüse wuchs. Dann zeigte sie auf ein großes, leer stehendes Gebäude, unten aus Stein, oben aus Tannenholz, das sich dahinter erstreckte. »Siehst du das? Das war früher mal ein Stall und eine Scheune«, sagte sie. »Wir galten als reich. Deswegen konnten wir auch in einem Haus wohnen, das groß genug für zwei Familien ist.«
Mercurio betrachtete das Gebäude. Er hatte es bereits von dem Fenster in seinem Zimmer aus gesehen, aber Anna nie danach gefragt.
Anna nahm seine Hand. »Komm«, sagte sie und führte ihn zu der schief in den Angeln hängenden Stalltür. Als sie sie öffnete, flatterte ein Vogel auf, der dort drinnen sein Nest gebaut hatte. Eine Maus lugte aus einer Futterkrippe hervor. »Wir hatten auch an die fünfzig Kühe. Damals hat mein Mann mir diese Kette gekauft«, sagte sie lächelnd und streichelte über die Kette, die Mercurio für sie bei dem Pfandleiher Isaia Saraval ausgelöst hatte. »Dann kam die Dürre über uns. Es gab nicht einmal genug Gras für die Kühe. Sie magerten schrecklich ab und gaben keine Milch mehr. Gegen Ende des Jahres überfielen uns in einer Nacht Räuber aus den Bergen des Friaul und stahlen uns zehn Stück Vieh. Wenig später folgten die Bauern aus der Umgebung. Sie entschuldigten sich, aber sie sagten, sie brauchten das Fleisch für ihre Kinder, die sonst verhungern müssten. Und sie nahmen sich eine Kuh. Zehn Tage darauf noch eine. Und dann eine dritte. Und jedes Mal wurden sie dreister. Sie entschuldigten sich nicht mehr und hatten immer längere Messer dabei.« Anna seufzte und schüttelte den Kopf. »Schließlich kam die Seuche, die alles verbliebene Vieh innerhalb einer Woche dahinraffte.« Anna trat zurück und schloss die Stalltür. »Nachdem alles vorüber war, hatten wir nichts mehr, und davon haben wir uns nie wieder erholt.« Sie lächelte. »Aber wir hatten uns. Wir waren immer noch zusammen, mein Mann und ich. Und das ist alles, was zählt. Denn wir waren glücklich. Und ich bin froh, dass ich das nicht erst seit seinem Tod so empfinde, sondern auch damals schon, als er noch lebte.« Sie sah Mercurio an. »Ich weiß auch nicht, warum ich dir das alles erzählt habe«, sagte sie.
Mercurio betrachtete gedankenverloren das Stallgebäude. »Ich muss gehen«, sagte er dann, »aber ich komme bald wieder.«
Anna nickte. Mit einem gütigen Lächeln in den Augen blickte sie ihm hinterher. Sie wusste ganz genau, warum sie ihm diese Geschichte
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