Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
nach! Los, lauf schon, Äffchen«, johlten die letzten Zuschauer höhnisch.
Lanzafame ging auf die Brücke zum Judenviertel und baute sich dort mit in die Hüften gestemmten Armen in der Mitte auf. Er keuchte schwer. Die Haare fielen ihm in die Stirn, seine Nasenflügel zitterten vor Wut, und man sah, wie er immer wieder die Kiefernmuskeln anspannte.
Einen Moment lang kam es Giuditta vor, als würde sie den mutigen Krieger wiedererkennen, der er einmal gewesen war.
»Und ihr macht gefälligst weiter mit dem, was ihr sonst auch tut!«, brüllte der Hauptmann den eingeschüchterten Juden zu. »Es ist nichts passiert!« Er starrte sie noch eine Weile schweigend an, bevor er zum Wachhaus zurückkehrte.
Die auf dem Platz versammelten Juden waren wie erstarrt. Da hob ein kleiner Junge einen Stock vom Boden auf und stürzte sich auf einen unsichtbaren Feind. »Ich bin Hauptmann Lanzafame, du verfluchter Satansmönch! Dir werde ich es zeigen!«
»Simone, nein!«, hielt seine Mutter ihn zurück und packte ihn am Arm. »Nein! Auch wenn er uns geholfen hat, bleibt er immer noch ein Christ!«
Der Junge sah sie kurz an. Dann riss er sich los und rief wieder: »Ich bin Hauptmann Lanzafame, du verfluchter Hund!«
Zwei andere Jungen nahmen sein Spiel auf und schrien ebenfalls: »Ich bin Hauptmann Lanzafame!« Und noch weitere Kinder stürzten sich in ein fröhliches Kampfgetümmel.
Giuditta beobachtete sie. Was sollten die Kinder auch anderes tun, wo heute nicht ein Jude einen Finger gerührt hatte, um sie zu verteidigen? Was sollten sie tun, wo doch alle Männer der Gemeinde wie gelähmt dagestanden hatten und keiner sich als Held hervorgetan hatte?
»Giuditta«, hörte sie Octavia hinter sich sagen. »Der Hauptmann hat recht. Es ist nichts passiert.«
Giuditta drehte sich fragend zu ihr um. »Es ist nichts passiert?«
Octavia war blass geworden. Dennoch sagte sie: »Komm, lass uns den Laden eröffnen.«
Giuditta sah zu Ariel Bar Zadok hinüber. Der Kaufmann war vollkommen durcheinander und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
»Kommt her, gute Leute!«, rief da Octavia aus und machte eine einladende Geste in Richtung der Frauen der Gemeinde. »Kommt und seht euch die Modelle von Giuditta di Negroponte an!« Dann stieß sie Ariel Bar Zadok an und zischte ihm zu: »Jetzt mach schon, du alter Esel!«
Der Kaufmann hielt immer noch den Zipfel eines roten Seidentuchs fest, das er vor den Eingang des Geschäfts gespannt hatte, um so die Leute zu überraschen. Doch er konnte sich nicht dazu durchringen, es fortzuziehen.
Die Leute der jüdischen Gemeinde zögerten noch. Immer wieder schauten sie in Richtung des Rio di San Girolamo, wo nach wie vor der Rauch von den verbrannten Heiligen Schriften aufstieg. Der Rabbiner versuchte mit Hilfe zweier Männer das Wenige aus dem Wasser zu bergen, was nicht Opfer der Flammen geworden war.
»Kommt, Rachel«, forderte Octavia die Frau auf, die als eine der Ersten einen Hut von Giuditta erworben hatte. »Kommt und seht, wie hübsch alles geworden ist.«
»Nicht heute, Octavia«, erwiderte Rachel hastig und machte sich auf den Heimweg.
Nach und nach gingen alle Bewohner des Ghettos, die nicht wegen ihrer Arbeit in Venedig unterwegs waren, nach Hause. Nur ein paar Kinder blieben zurück, die mit ihren Holzschwertern immer noch »Hauptmann Lanzafame und der verfluchte Satansmönch« spielten.
»Und du, willst du auch nicht wissen, wie alles geworden ist?«, wandte sich Octavia enttäuscht an Giuditta.
Giuditta sah zum Laden hin. Ariel Bar Zadok stand immer noch unentschlossen auf der Schwelle und umklammerte den Zipfel des roten Seidentuchs. Giuditta fand, dass er lächerlich aussah. Und unendlich traurig. Da umarmte sie ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Aber ja doch!«, sagte sie und zwang sich, heiter zu klingen. »Zeigt mir euer Werk.«
»Na gut, dann los, Ariel«, sagte Octavia, und als der Kaufmann immer noch nicht reagierte, nahm sie ihm den Stoffzipfel aus der Hand und zog daran. Raschelnd fiel das Tuch zu Boden und gab den Blick auf den Laden frei.
Giuditta wollte eintreten, doch dann blieb sie staunend draußen stehen und betrachtete im Schaufenster atemlos eines der Kleider, die sie entworfen hatte. Es war noch schöner, als sie es sich auf dem Papier vorgestellt hatte.
»Na? Was hältst du davon?«, fragte Octavia zufrieden lächelnd.
»Es ist wunderschön …«, flüsterte Giuditta.
Octavia lachte. »So wie du das sagst, klingt es, als wären das
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