Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
seinem Versteck hervor und schleppte sich zu dem einzigen Platz, an dem er jetzt sein wollte.
Nachdem er an Esters Tür geklopft hatte, musste er nicht lange warten, bis sie ihm öffnete.
Als sie ihn blutüberströmt vor sich stehen sah, schlug sie die Hände vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Schnell ließ sie ihn eintreten und versorgte bestmöglich seine Wunden. Die ganze Zeit über sagte sie kein Wort, als wäre sie selbst stumm.
Da gebot Shimon ihr plötzlich innezuhalten. Mühsam bewegte er sich auf den Schreibtisch zu, nahm Papier und Tinte und begann, hastig zu schreiben.
MEIN WAHRER NAME IST SHIMON BARUCH, ICH KOMME AUS ROM. ICH WAR KAUFMANN …
Shimon schrieb schnell, den Kopf tief über das Papier gebeugt. Das Blut aus der Wunde an der Augenbraue tropfte auf die Blätter, die er an Ester weitergab, damit sie seine ganze Geschichte unverzüglich lesen konnte.
… DANN GING ICH ZU DEN ABWASSERKANÄLEN UND ENTDECKTE DORT EINEN MANN NAMENS SCAVAMORTO, DER GERADE DIE SACHEN DIESES JUNGEN FORTSCHAFFEN LIESS …
Shimon atmete schwer. Die Schmerzen in der Brust, wo ihm der Riesenkerl mit dem Stock die Rippen zerschmettert hatte, waren unerträglich.
… UND BEVOR ER STARB, SAGTE ER MIR, DASS DER DIEB MERCURIO HEISST …
Ester las genauso hastig, wie Shimon schrieb. Und als sie zu Ende gelesen hatte, ließ sie das Blatt fallen, das sie gerade in der Hand hielt, stand auf und trat hinter Shimon, damit sie sogleich lesen konnte, was er als nächstes niederschrieb.
… UND ALS DER GEFÄNGNISWAGEN VON DEN RÄUBERN ANGEGRIFFEN WURDE, DACHTE ICH, DASS ICH JETZT WOHL STERBEN WÜRDE. ABER ICH HATTE KEINE ANGST …
Das Blut tropfte allmählich langsamer aus der Wunde am Auge. Shimon schrieb weiter, und Ester las.
… UND DANN BIST DU GEKOMMEN …
Shimon stockte und sah mit schmerzvoll verzerrtem Gesicht zu Ester auf.
Sie sah ihn mit angehaltenem Atem an.
ICH KANN DIR NICHT SAGEN, WAS ICH FÜR DICH EMPFINDE. ICH WEISS JA NICHT EINMAL …
Ester sah ihm in die Augen und sagte dann leise: »Du hast mich vor Carnacina gerettet.«
Shimon spürte einen Stich im Herzen.
DAS HAST DU GEWUSST?, schrieb er.
»Ja.«
Shimon legte den Gänsekiel weg.
»Lass mich deine Wunden versorgen«, sagte Ester.
Shimon schüttelte den Kopf. Er zog sie an sich und küsste sie, während sein Blut ihre Kleider befleckte. Ester legte sich auf den Boden und ließ zu, dass er in sie eindrang und dass sein Blut und seine Tränen sich über sie ergossen.
Endlich begriff Shimon, wofür der abgeschnittene Rosenstrauch stand: für eine Liebe, die niemals erblühen sollte.
Am nächsten Morgen war er verschwunden.
LEB WOHL, stand auf dem Blatt, das Ester auf dem Kissen neben sich fand. Und die Tinte glänzte rot wie Blut.
58
D ie Wachen des Ghetto Nuovo waren gerade dabei, das Tor zur Brücke über den Rio di San Girolamo zu schließen, als sie einen Nachzügler bemerkten. Der Mann bemühte sich, die Fondamenta degli Ormesini möglichst schnell zurückzulegen, aber er hinkte und zog das rechte Bein hinter sich her. Er war dick in einen Umhang eingemummelt und ging gebeugt, der gelbe Hut auf seinem Kopf war so groß, dass er eher wie eine Kapuze aussah. Als der Jude es endlich bis auf die Brücke geschafft hatte, winkte er heftig.
»Shalom Aleichem«, sagte er keuchend zu den Wachen.
»Ja, Friede sei auch mit dir«, brummte Serravalle. »Du solltest doch inzwischen wissen, dass du mächtig Ärger bekommst, wenn du über Nacht draußen bleibst!«
»Mazel tov! Mazel tov!«, rief der Jude, dessen höckrige, lange Nase so tief von Falten durchzogen war, dass sie ganz rissig wirkte, und nickte voll überschwänglicher Dankbarkeit, was sein Ziegenbärtchen am Kinn eifrig mitwippen ließ.
»Schon wieder einer, der kein Wort Venezianisch spricht«, wandte sich Serravalle stöhnend an die andere Wache. »Ja, ja, mach schon, beeil dich«, sagte er zu dem Nachzügler.
Der Jude hinkte auf seine geduckte Art, den Hut fast bis zu den Augen hinuntergezogen, weiter bis zum ersten Tor der Bogengänge rund um den Platz. Er versuchte, es zu öffnen, aber es war verriegelt. Der Mann sah sich um und entdeckte einen Gehilfen des Rabbiners auf seiner Runde durch das Ghetto Nuovo, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Der Nachzügler senkte den Kopf und überquerte den Platz, um ihm aus dem Weg zu gehen. Doch der Gehilfe hatte ihn schon entdeckt und kam ihm hinterher.
»Shalom Aleichem«, grüßte er ihn aus der Entfernung.
»Aleichem
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