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Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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wartete.
    Tatsächlich hatte ihn das Erlebnis mit Carnacina in seinem tiefsten Innern erschüttert. Doch nicht die Mordtat als solche hatte ihn berührt oder an seinen moralischen Grundfesten gerüttelt. Es war vor allem die Tatsache, dass sein neues Wesen, sein grausames, blutrünstiges Ich, weiter in ihm lauerte. Und dann kam unerwartet noch jemand ins Spiel: Ester. Sie hatte alles durcheinandergebracht. Plötzlich hatte er aus Zuneigung und Leidenschaft gehandelt. Was zunächst aus purer Grausamkeit und Rache geschehen war, erhielt nun den Anschein von Gerechtigkeit. Und diese neue Wendung warf Shimon nun aus dem Gleichgewicht. Wie war es möglich, dass er, der sich selbst bis dahin als nahezu gefühllos empfunden hatte, zu solcher Zärtlichkeit und Anteilnahme fähig war?
    »Wer bist du wirklich?«, fragte Shimon sich jeden Morgen beim Erwachen.
    Er wusste, dass er der Jude war, der seine Frau verlassen hatte, ohne sich einmal umzublicken. Ein Mörder, der seine Hände mit dem Blut vieler Menschen befleckt hatte, ohne dass sein Herz dabei schneller geschlagen hätte.
    »Wer bist du wirklich?«, fragte er sich.
    Und jeden Morgen erschien ihm dann Esters lächelndes Gesicht in einer Art stiller Antwort. Voller Vorfreude dachte er an ihre ruhigen Treffen am Nachmittag, an ihre entspannten Abende, an denen er es genoss, ihr während der gemeinsamen Mahlzeit beim Essen zuzusehen, oder an die Leidenschaft, wenn sein Körper mit ihrem verschmolz.
    »Wer bist du wirklich?«
    Auch als er an diesem Tag Carnacinas Diener entdeckt hatte, musste er wieder darüber nachdenken. Der Diener hatte ihn ebenfalls bemerkt, und er hatte ihn erkannt. Shimon war das Herz stehen geblieben. Es hatte zwei oder drei Schläge lang ausgesetzt, bevor es wieder regelmäßig weiterschlug.
    Und nun verfolgten ihn seit einer geraumen Weile diese beiden finsteren Gestalten. Wollten sie ihn töten oder nur erpressen? Allein dieser Frage galten Shimons Gedanken. Sein Herzschlag hatte sich wieder normalisiert, und sein Atem ging ganz ruhig. Seine Seele, in der sich ein Abgrund von Gefühlen aufgetan hatte, war wieder zur Ruhe gekommen.
    Er führte die beiden Verbrecher kreuz und quer durch die Stadt, bis er sich kurz vor der Hostaria de’ Todeschi zum Handeln entschloss. Er bog um eine Ecke und verbarg sich. Kurz bevor sie ihn erreicht hatten, stellte er sich ihnen unvermittelt in den Weg und starrte sie furchtlos an.
    Die beiden Schurken blieben überrascht stehen. Einen Moment lang wirkten sie nicht mehr so verwegen wie zuvor.
    Shimon wurde klar, dass sie nicht den Auftrag hatten, ihn zu töten.
    »Ein Freund von uns möchte dich etwas fragen«, sagte schließlich einer der beiden. »Aber nicht hier vor aller Augen.«
    Shimon nickte. Offensichtlich war der Diener noch gieriger als sein Herr.
    »Heute Abend. Nach Sonnenuntergang«, sagte der tätowierte Kerl.
    Shimon nickte wieder.
    »Wir holen dich ab. Wo wohnst du?«
    Shimon ging um die Ecke und zeigte auf die Hostaria de’ Todeschi.
    Die beiden Schurken musterten ihn schweigend in dem Versuch, ihn einzuschüchtern.
    Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt Shimon ihrem Blick stand.
    »Nach Sonnenuntergang«, wiederholte schließlich der andere, und dann verschwanden sie beide.
    Shimon betrat die Werkstatt eines Waffenschmieds und erwarb dort ein Messer mit einer langen, leicht gebogenen Klinge. Dann schloss er sich in sein Zimmer ein. Er nahm einen Stein, Wasser und Öl und verbrachte den ganzen Tag damit, die Klinge bestmöglich zu schärfen. Diesmal ging er nicht zu Ester.
    Kurz vor Sonnenuntergang klopfte es an der Zimmertür.
    Shimon steckte sich das Messer unter das Wams und öffnete.
    Ester stand vor ihm und sah ihn mit ihrem freundlichen Lächeln. »Ich bin bloß gekommen, weil ich sehen wollte, ob dir etwas zugestoßen ist«, sagte sie ohne den geringsten Vorwurf in ihrer Stimme. »Geht es dir gut?«
    Shimon war sich bewusst, dass Ester stets versuchte, ihm nur Fragen zu stellen, auf die er mit Ja oder Nein antworten konnte, sodass er sich niemals hilflos vorkam. Doch an diesem Abend konnte Shimon nicht mit einem schlichten Ja oder Nein antworten. Rasch ging er zum Schreibpult, nahm ein Stück Papier und tauchte den Gänsekiel in das Tintenfass. Er schrieb etwas auf und reichte Ester das Blatt.
    GEH, stand darauf.
    Esters Lächeln erlosch. Verwunderung lag in ihren Augen. Und hinter diesem Erstaunen erkannte Shimon Schmerz und Verletztheit. Umso nachdrücklicher klopfte er mit dem Finger auf

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