Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
Shalom«, erwiderte der Jude und wurde trotz seines Hinkens immer schneller.
»Wer bist du?«, fragte der Gehilfe, der jetzt fast an seiner Seite war.
Doch der Mann schien ihn nicht zu verstehen. »Mazel tov«, antwortete er.
»Dir auch viel Glück, Bruder. Aber ich habe dich gefragt, wer du bist? Wo wohnst du?«
»Mazel tov«, sagte der hinkende Jude noch einmal und schlüpfte beinahe im Laufschritt zwischen zwei Gebäude, die auf den Kanal am Ghetto gingen.
»He …!«, rief der Gehilfe verdattert und blieb kurz stehen, ehe er ihm weiter nachsetzte.
Kaum war der fremde Jude zwischen den beiden Häusern verschwunden, erreichte er auch schon den kleinen Garten hinter der Synagoge, kletterte auf ein Sims auf halber Höhe und hangelte sich geschmeidig wie eine Katze an einer Regenrinne hoch, um auf ein kleines Vordach zu gelangen. Dort legte er sich flach auf den Bauch und machte sich so unsichtbar.
Der Gehilfe des Rabbiners kam schnaufend angelaufen. Verblüfft sah er sich um, überprüfte selbst die finstersten Ecken, aber der Mann, den er verfolgt hatte, schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Während er die Laterne hochhob, sich einmal um die eigene Achse drehte und noch rätselte, wie sein Glaubensbruder so plötzlich spurlos verschwunden sein konnte, erregte etwas am unteren Teil des Zauns, der den kleinen Garten umschloss, seine Aufmerksamkeit. Der Rabbinergehilfe hob den Gegenstand auf, drehte ihn verwirrt zwischen den Fingern und begriff zunächst nicht, was das sein sollte. Doch auf einmal fiel es ihm ein. Er setzte ihn sich auf den Nasensattel. Dann nickte er und lächelte. »Kinder!«, rief er. Wieder drehte er den Gegenstand zwischen den Fingern, bewunderte seine Kunstfertigkeit und erinnerte sich daran, dass er als kleiner Junge ebenfalls mit so etwas gespielt hatte. Doch es war Jahre her, dass er etwas Ähnliches – und dazu noch so meisterhaft gefertigt – gesehen hatte. »Eine falsche Nase aus Brotkrumen«, murmelte er lachend vor sich hin und steckte sie ein. Er würde sie morgen seinem Sohn schenken. »Es ist schon spät, Kinder!«, rief er laut in die Nacht. »Geht schlafen!«
»Geh doch selber schlafen, Mordechai!«, donnerte eine Stimme grollend hinter einem Fenster. »Hier stört nur einer, und das bist du!«
Der Gehilfe des Rabbiners zog den Kopf ein und machte sich auf Zehenspitzen davon.
Oben auf dem Vordach fasste sich Mercurio ins Gesicht und begriff erst jetzt, dass er seine falsche Nase verloren hatte. »Verdammter Mist«, fluchte er leise. Dann riss er sich, einen Schmerzenslaut unterdrückend, den falschen Bart ab, rieb sich das vom Fischleim gereizte Kinn und steckte den gelben Judenhut ein. Langsam ließ er sich an der Regenrinne herab. Kaum hatte er den Boden erreicht, fuhr er mit einer Hand in die Tasche und stellte erleichtert fest, dass er das Werkzeug, das er gleich brauchen würde, noch bei sich trug. Vorsichtig ging er zurück unter den Bogengang und schaute sich um: Der Platz war menschenleer.
Er holte den Dietrich aus der Tasche und hatte das einfache Haustürschloss im Nu geöffnet. Er ging hinein und zog die Tür leise hinter sich zu.
»Vierter Stock«, flüsterte er, und das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich an den Aufstieg machte. Je weiter er nach oben kam, desto verrückter erschien ihm sein Vorhaben. Mit jeder weiteren Stufe hatte er das Gefühl, als würde auch sein Herz im Körper immer höher steigen und versuchen, seine Kehle zu sprengen. Seine Beine wurden so steif, dass er meinte, sie nicht mehr beugen zu können. Und doch blieb er nicht stehen, denn seit seinem Besuch im Castelletto wusste er, dass er Giuditta endlich ganz nahe sein wollte.
Er war so aufgeregt, dass ihm, als er den vierten Stock schließlich erreicht hatte, der Dietrich aus der Hand glitt und mit metallischem Klirren einige Stufen hinunterfiel. Mercurio presste sich an die Wand und hielt den Atem an, felsenfest davon überzeugt, alle im Haus müssten es gehört haben. Nach einer Weile jedoch stellte er fest, dass niemand hinausgekommen war, um nachzusehen. Wieder ermutigt, schlich er die Stufen hinab und suchte auf allen vieren nach dem Dietrich. Nachdem er ihn gefunden hatte, stieg er erneut in den vierten Stock hinauf. Auf dem Treppenabsatz gab es zwei Türen. Mercurio versuchte sich zu orientieren und entschied, dass die linke zu der Wohnung gehören musste, die auf den Platz des Ghetto Nuovo ging. Er wusste, dass Giuditta dort im vierten Stock wohnte, weil er sie vor
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