Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
den Zettel.
GEH.
Ester ließ das Papier fallen und wich zurück. Beinahe unmerklich schüttelte sie den Kopf, als wollte sie ihm widersprechen.
Da schlug Shimon ihr mit aller Wucht die Tür vor der Nase zu. Er ballte die Fäuste und kniff die Augen zu, um seinen Schmerz zu unterdrücken. Er lehnte die Stirn gegen die Tür und blieb wie erstarrt stehen. Kurz darauf hörte er, wie sich Ester auf dem Flur der Herberge entfernte. Langsam schleppten sich ihre Füße über den Holzboden.
Shimon machte sich wieder daran, die Klinge zu schärfen. Dann band er sich das Messer ans Handgelenk und verbarg es im langen Ärmel seines Gewandes.
Als der Wirt der Herberge ihm mitteilte, dass zwei Männer auf ihn warteten, ging er nach draußen und folgte ihnen bis zu einem Lagerhaus am Hafen. Bevor sie das Gebäude betraten, schoben ihn die beiden Schurken gegen die Wand und tasteten ihn an Hüfte und Brust nach einer Waffe ab. Dann öffneten sie die Tür und stießen ihn in den dunklen, feuchten Raum.
Der Diener saß am Ende des Raumes auf einer Kiste. Auf einer anderen Kiste stand ein brennendes Talglicht.
»Kommt näher«, sagte der Mann mit honigsüßer Stimme.
Shimon hatte den Eindruck, dass er versuchte, seinen verstorbenen Herrn nachzuahmen. Mit Sicherheit hatte er ihn gehasst, weil er ihn auf jede erdenkliche Weise gedemütigt hatte. Und jetzt, wo er frei war, konnte er nichts anderes, als ihn nachzuahmen.
Shimon kam langsam näher.
Einer der beiden Tätowierten stieß ihn ungeduldig vorwärts.
Shimon wehrte sich nicht. Vielleicht würde er dieses Mal selbst sterben. Er sah vor seinem inneren Auge wieder den niedergemetzelten Rosenstrauch aus Carnacinas Garten. Womöglich steckte tatsächlich eine Botschaft in diesem Bild: dass er nie gelernt hatte, das Leben zu lieben.
Er blieb mitten im Lagerraum stehen und musste an Ester denken. Ihre Zuneigung und Herzenswärme hatten seinem Leben wieder neue Hoffnung gegeben. Und doch würde er sie wohl verlieren. Wenn er sie nicht schon in jener Nacht verloren hatte, in der er den Diener, der ihm jetzt gegenübersaß, absichtlich am Leben gelassen hatte. Um einen Grund zu haben, Rimini zu verlassen. Um offen zu sein für ein neues Leben, dass das Schicksal ihm nun gewährte.
»Wer bist du?«, fragte der Diener.
Shimon lächelte. Dieselbe Frage stellte er sich jeden Morgen aufs Neue.
»Du hast ziemlich viel gestohlen. Ich will die Hälfte davon, oder ich zeige dich an«, sagte der Diener herausfordernd.
Shimon bückte sich vornüber, riss sich das Messer vom Handgelenk und wirbelte einmal um die eigene Achse. Er hatte den Arm vorgestreckt und hielt die Klinge so hoch, dass er die Kehle des Schurken hinter ihm erreichte. Noch in der Umdrehung spürte er, wie das Messer in dessen Fleisch eindrang, und er hörte ihn aufstöhnen, ehe er in sich zusammensackte.
Der Diener sprang erschrocken von der Kiste auf und versuchte zu fliehen.
Shimon wollte ihn verfolgen, doch der andere Kerl warf ihm einen Knüppel zwischen die Beine, sodass er hinfiel, und war dann sofort über ihm mit einem kurzen, doppelschneidigen Messer.
Shimon konnte seine Beine noch schützend vor die Brust ziehen, dann drückte er sie mit aller Gewalt durch und traf den anderen mit voller Wucht in den Unterleib.
Ehe sein Gegner nach hinten flog, konnte der ihm noch einen Hieb versetzen, und sein Messer durchbohrte Shimons Wade.
Shimon riss den Mund in einem stummen Schmerzensschrei auf. Dann zog er das Messer aus seiner Wade und versuchte sich aufzurichten.
Inzwischen kamen weitere Leute hinzu, die der Diener wohl herbeigerufen hatte.
Shimon sah, wie sich ein sehr großer Mann mit einem kurzen, gedrungenen Stock auf ihn stürzte, und spürte, wie er ihm mit einem wuchtigen Schlag die Rippen brach. Doch es gelang ihm, zur Seite abzurollen und sich gleich darauf wieder aufzurichten. Schwer atmend wandte er sich zur Tür. Ein anderer Mann traf ihn mit einem Knüppel im Gesicht. Shimon fühlte, wie seine Augenbraue aufplatzte und Blut in sein Auge lief. Seine Faust schnellte vor und brach dem Mann die Luftröhre. Der legte im Todeskampf die Hände an die Kehle und sank zu Boden. In einer schier übermenschlichen Anstrengung sprang Shimon über den leblosen Körper, erreichte die Tür und schleppte sich bis zu den Gassen hinter dem Hafen.
Wie ein wildes Tier keuchend verbarg er sich in einem Winkel und versuchte, seine Schmerzen zu unterdrücken. Als er hörte, wie sich die Stimmen entfernten, kroch er aus
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