Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
trieben. Und er blickte noch immer dorthin, als Tonio und Berto im Rio di Santa Giustina anlegten.
Mercurio stieg aus und wies die beiden Freunde an, weiterzufahren. Er würde schon allein zurückkommen. Aus dem Augenwinkel sah er wieder das schwarze Boot, das sich in einiger Entfernung dem Kai näherte. Aber auch jetzt beachtete er es nicht weiter.
Er dachte an die Nacht, die er mit Giuditta verbracht hatte, und spürte, wie das Verlangen seinen ganzen Körper erfasste. Sogleich erfüllte ihn wieder unbändige Freude, und so rannte er fast den ganzen Weg am Rio di Santa Giustina entlang zu Zuan dell’Olmos Bootswerft.
Das schwarze Boot folgte ihm lautlos über das Wasser.
Als Mercurio das Ende des Kanals erreichte, sah er, was der Nebel am Vortag verborgen hatte: das Meer. Es kam ihm vor, als würde Venedig hier enden. Die Luft roch hier anders, nicht mehr so faulig nach Brackwasser, und das Salz prickelte in der Nase. Das Einzige, was in dieser Weite zu sehen war, war eine kleine Insel direkt vor ihm.
Mercurio sah sich um. Hier gab es nur armselige Fischerhütten, vom Prunk Venedigs war nichts zu erahnen. Überall am teils schlammigen, teils sandigen Ufer lagen Fischgräten und an Land gezogene Boote, dazwischen saßen Unmengen Katzen, die sich träge putzten. Die hölzernen Hütten wirkten klein und bedrückend, man erreichte sie über Molen und Landungsstege aus verzogenem Holz. Auf zweien von ihnen waren fensterlose Verschläge mit schmalen Türen zu sehen. Mercurios Blick fiel auf einen kleinen Jungen mit bloßen Füßen und nichts als einer Jacke am Leib. Er knetete seinen Kinderpimmel mit einer Hand, was seine Mutter, die gerade ein Baby auf ihrem Arm hielt und stillte, veranlasste, ihm eine kräftige Ohrfeige zu versetzen. Der Junge ließ seinen Pimmel los und fing an zu weinen. Daraufhin ohrfeigte ihn die Mutter noch einmal, und der Junge hörte schlagartig auf. Dann klopfte die Frau ungeduldig an die schmale Tür einer Bretterbude. Gleich darauf kam ein großer Mann heraus, der sich die Hosen hochzog. Die Mutter schob den kleinen Jungen hinein, und Mercurio sah, dass die Hütte über dem Wasser leer war und im Boden ein Loch klaffte. Es war eine Latrine. Während das Kind sich bei offener Tür hinhockte, um seine Notdurft zu verrichten, schob der Mann den Säugling von der mütterlichen Brust weg und nuckelte zum Spaß selbst daran. Die Frau lachte grell, und als der kleine Junge fertig war, zerrte sie ihn den Steg entlang zurück ans Ufer und stieß ihn ins Wasser. Dort kauerte sich der Junge hin und säuberte sich den Hintern.
Zu seiner Rechten sah Mercurio viereckige Fischernetze, die an den Enden einiger schmaler Stege aufgehängt waren, sodass man sie von dort aus gleich zu Wasser lassen konnte. Dann gab es noch einige kleinere Gemüsegärten, in denen ein paar kümmerliche Pflanzen wuchsen. In einem von ihnen sammelte eine alte Frau Schnecken von den Blättern eines Kohlkopfs ab. Da begriff Mercurio, wie arm diese Leute waren, wenn sie sich mit den Schnecken um ihr Essen streiten mussten. Eine fette Ratte huschte zu einem stinkenden Rinnsal, das ins Meer floss. Sie stürzte sich hinein und schwamm, während ihre Nase wie ein Bug durchs Wasser pflügte. Zwei Knaben warfen mit Steinen nach ihr, und die Ratte tauchte ab.
Mercurio wurde bewusst, dass der viele Marmor und die Pracht Venedigs ihn all das hatten vergessen lassen. Selbst die Bettler, die rund um Rialto, den großen Markusplatz oder am Canal Grande entlangstrichen, wirkten weniger zerlumpt. Hier außerhalb der Stadt hingegen zeigte sich die Armut so, wie Mercurio sie in Rom kennengelernt hatte: vulgär und ungeschönt. Und Mercurio fühlte sich hier heimisch, er empfand weder Furcht noch Abscheu. Die Frau, die ihren Sohn zur Verrichtung seiner Notdurft zu einer Latrine über dem Wasser führte, während ein Mann, der ganz bestimmt nicht ihr Ehegatte war, an ihrer Brust sog oder ihr an den Hintern fasste, hätte genausogut seine Mutter sein können. Eines der Kinder war vielleicht in dieser Latrine gezeugt worden. Ein anderes war möglicherweise wie er an der Drehlade für Findelkinder abgegeben worden. Nein, nichts in dieser erbärmlichen Welt konnte ihn erschrecken, ganz einfach, weil er sie bereits kannte.
Ohne zu wissen, warum, blieb er noch eine Weile stehen, um die erbärmliche Armut zu betrachten, ihre Gerüche in sich aufzusaugen, dem Geschrei, dem Klagen und Stöhnen zu lauschen. Und da spürte er, dass sich in ihm eine neue
Weitere Kostenlose Bücher