Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
Kraft ausbreitete. Weil er es geschafft hatte, sich aus diesem Elend zu befreien.
Dann wandte er sich nach rechts, und da sah er es schließlich. Er sah es zum ersten Mal vollständig, ohne gnädigen Nebelschleier.
Es war ein Wrack.
Fast hätte er vor Schreck laut aufgelacht, denn es sah viel schlimmer aus, als er es sich vorgestellt hatte. Und doch zog dieses Schiff ihn auf magische Weise an.
Es ist wie ich, dachte er.
Dieses Schiff war sein Spiegelbild: Mercurio, wie er in seinem erbärmlichen Schlupfwinkel im Abwasserkanal hockte. Er blieb stehen und sah an sich herunter. Die schönen Kleider, die Schuhe mit der dicken Sohle, der warme Hut. Seine Hand glitt in die Tasche zu den Goldmünzen, er hörte sie klirren und umschloss sie mit seinen Fingern. Er spürte, wie das Metall sich unter ihnen erwärmte.
Wenn ich es geschafft habe, dann schaffst du es auch, dachte er, als redete er mit dem Schiff.
Mercurio betrachtete den dunklen Kiel, der wohl an einigen Stellen verrottet war, und den unterhalb der Wasserlinie von Algen und Schalentieren verkrusteten Rumpf. Das Geländer des Achterdecks war kaum noch vorhanden, der Hauptmast abgebrochen. Die wenigen verbliebenen Segel flatterten schlaff hin und her wie die Banner eines geschlagenen Heeres. Der Mastkorb, die Wanten, die Rahen, alles vermittelte den Eindruck, als würde es jeden Moment herabfallen wie die Zweige eines verdorrten Baumes. Das Steuerrad war aus seiner Verankerung gerissen und beiseitegeworfen worden. Die Karacke lag zur Hälfte über der Wasserlinie auf der Rampe der Werft, deren Dach ebenfalls Löcher aufwies, als wollte sie sich dem allgemeinen Verfall anpassen. Das Heck dümpelte im Kanal.
Mercurio sog die salzige Luft tief in sich ein. Dann stieß er einen Pfiff aus.
Gleich darauf war aufgeregtes und zugleich jammerndes Gekläffe zu vernehmen, und Mosè kam flink aus der Hütte neben der Werft getrabt und lief ihm schwanzwedelnd entgegen. Mercurio lächelte und ging in die Knie. Bei ihm angelangt, wedelte Mosè so heftig mit dem Schwanz, dass sein ganzes Hinterteil wackelte, und umtänzelte Mercurio, hin- und hergerissen zwischen Angst und Freude und unsicher, ob er sich tatsächlich von ihm streicheln lassen sollte. Schließlich gab er sich einen Ruck, ließ sich von Mercurio berühren und legte sich dann aufgeregt und glücklich zwischen dessen Beine.
»Mosè, du bist wirklich ein dämlicher Köter«, sagte der alte Zuan dell’Olmo, der auf seinen Stock gestützt in der Tür der Hütte stand.
»Los, Mosè!«, forderte Mercurio den Hund auf, erhob sich und ging zu dem alten Mann. Mosè lief bellend neben ihm her.
»Er mag dich wirklich«, bemerkte Zuan.
»Ich mag ihn auch«, erwiderte Mercurio.
»Na, dann passt es ja«, sagte Zuan und sah auf die weite Wasserfläche hinaus.
»Ist das das Meer?«, fragte Mercurio.
»Nein!«, entgegnete der Alte beinahe empört. Er deutete nach rechts, Richtung Osten. »Das Meer ist da drüben.« Dann hielt er die Hände parallel, wie um einen Kanal anzuzeigen, und bewegte sie weiter in südlicher Richtung, während er erklärte: »Und von da geht es immer geradeaus, wie durch einen riesigen Gang, der zu unserem großen Wohnzimmer, dem Mittelmeer, führt.« Darauf deutete er nach links. »Dort sind die Märkte des Orients, das Tote Meer und die Passage nach China.« Dann drehte er sich halb um seine Achse und breitete die Arme aus. »Da liegt das Mittelmeer, das Afrika mit Europa verbindet …«, er legte die Hände zusammen und zuckte mit den Schultern, »bis Gibraltar, wo …« Er verstummte, und seine Augen trübten sich. Dann breitete er plötzlich wieder die Arme aus, als wollte er diese unendliche Weite umfassen. »Da draußen ist der Ozean, wo wir, als ich ein kleiner Junge war, das Ende der Welt vermuteten.«
Während Mosè ein wenig winselte, hatte Mercurio ihm atemlos gelauscht. »Und stattdessen …«, sagte er leise, um den Zauber nicht zu brechen.
Der alte Zuan drehte sich zu ihm um. »Und stattdessen gibt es da Land, verfluchte Hurenkacke!« Er schüttelte den Kopf. »Da liegt die Neue Welt!«
»Und wie ist es dort?«
»Da soll mich doch auf der Stelle der Teufel holen, wenn ich das wüsste, mein Junge.« Und wieder trübten sich Zuans Augen. »Weißt du, was es für einen Seemann wie mich heißt, dass ich niemals dorthin gekommen bin?« Er sah Mercurio an. Dann lachte er hell, sodass man die wenigen in seinem Mund verbliebenen Zähne sehen konnte. »Nein, das weißt du nicht. Du
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