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Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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»Ich kenne einen Trick«, sagte sie und lachte leise.
    »Was für einen Trick?«
    »Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben«, begann Giuditta leise zu erzählen. »Ich habe sie nie kennengelernt.«
    Mercurio umarmte sie fest. Er wusste, was das bedeutete.
    »Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen …«, fuhr Giuditta fort. »Und die war mit einem alten Mann befreundet, den alle auf Negroponte für ein wenig verrückt hielten. Doch sie sagte, das sei nur das Geschwätz von dummen Leuten …« Giuditta lächelte. »Vielleicht war sie noch verrückter als er.«
    Mercurio lachte hellauf.
    »Psst, sei leise, du weckst noch meinen Vater auf.«
    Mercurio küsste ihre Lider. »Erzähl weiter.«
    »Also, dieser alte Mann kam fast jeden Abend zu uns. Meine Großmutter gab ihm zu essen, und dann setzten sie sich gemeinsam auf unsere Veranda und redeten bis spät in die Nacht. Ich war noch klein damals und hörte oben aus meinem Zimmer ihre Stimmen, das ständige Raunen wiegte mich in den Schlaf, und ich fühlte mich nicht so allein. Ich glaube, ich mochte den alten Mann wie meine Großmutter. Dann eines Abends, ich dachte, es wäre schon tiefe Nacht, bin ich aus einem Albtraum hochgeschreckt. Ich bin ins Erdgeschoss hinuntergelaufen, woher die Stimmen kamen, weil ich mich in die Arme meiner Großmutter flüchten wollte. Ich war schläfrig, und mir kam es vor, als wäre ich noch nicht ganz aus meinem Traum erwacht. Als ich aus dem Haus trat, rief ich nach meiner Großmutter, aber weder sie noch der alte Mann schienen mich zu hören. Sie standen mitten im Hof, hatten den linken Arm nach oben gestreckt, und ihre Zeigefinger deuteten in den Sternenhimmel. Ich blieb stehen. Das Ganze kam mir wie ein Traum vor. Und auf gewisse Weise sahen sie auch aus, als wären sie ganz woanders. Ich kann dir nicht sagen, warum ich das dachte, aber genau dieser Gedanke ging mir durch den Kopf, obwohl ich sie deutlich vor mir sah. Deswegen hatten sie mich nicht gehört. Und sie lachten leise miteinander wie zwei Verschwörer, geradezu vertraut. Das genügte, um meine Angst zu besänftigen, und ich ging wieder schlafen. Als ich am nächsten Abend meiner Großmutter wie gewohnt einen Gutenachtkuss gab, sah ich den alten Mann wieder zu uns kommen. Da fragte ich ihn: ›Was habt ihr gestern Abend gemacht?‹ Der alte Mann nahm mich auf seine Knie und sagte zu mir: ›Ich glaube, ich muss dir jetzt ein kleines Geheimnis verraten. Und wer weiß, vielleicht wird dir mein Trick irgendwann einmal genauso helfen wie mir. Schau einmal nach oben. Siehst du die Sterne dort am Himmel? Wenn du kurz wegschaust, sind sie nicht mehr da, denn sie wandern immer weiter. Weil Sterne Himmelskutschen sind. Und weißt du, wie man in sie einsteigen kann?‹ Er streckte meinen linken Arm aus und richtete meinen Zeigefinger gegen den Himmel. ›Du musst immer den linken Arm nehmen, denn auf dieser Seite sitzt das Herz, und das Herz ist unendlich viel stärker als der Kopf. Dann wählst du dir einen Stern aus. Sieh sie dir genau an, sie sind nicht alle gleich. Mir gefällt zum Beispiel dieser da. Auf dem sitzt es sich ganz bequem, und in meinem Alter tun einem schnell die Hinterbacken weh. Aber du bist ja noch so jung und kannst dir den da drüben nehmen, sieh mal dort. Das ist einer von den ganz schnellen. Ich war in meinem Leben immer leidenschaftlich gern unterwegs. Deshalb bin ich Seemann geworden. Aber jetzt will mich niemand mehr anheuern, und ich langweile mich auf dieser Insel. Ich fühle mich eingesperrt …‹« Giuditta wandte ihr Gesicht Mercurio zu, der ihrer Geschichte gebannt lauschte. Sein Mund stand ein wenig offen, wie bei einem staunenden Kind. »Ja, er hat ›eingesperrt‹ gesagt, genau wie du.« Sie lächelte. »Er hat mir erklärt, dass er jeden Abend auf den Sternen reitet. Und dass die Großmutter oft mit ihm reist. Sie hatten Indien besucht, China, Afrika, Spanien …« Giuditta lachte. »Ja, sogar den Mond. ›Aber du musst mit dem Herzen daran glauben‹, hat mir der alte Mann am Schluss gesagt und mir mit dem Zeigefinger auf die Brust getippt.« Giuditta ließ ihren Kopf auf Mercurios Schulter sinken. Ihre Stimme klang jetzt traurig. »In dieser Zeit war mein Vater nie zu Hause, und er fehlte mir sehr …«
    Mercurio drückte sie fester an sich.
    »Nach jenem Abend stellte ich mich jede Nacht an das Fenster in meinem Zimmer, berührte mit meinem Finger den Himmel und ritt auf den Sternen. Und dann ließ ich mich zu meinem Vater tragen

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