Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
erwiderte Giuditta. »Er ist Jude, und du bist Christ.«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Warum verstehst du das nicht?«, fragte Giuditta. »Für dich ist alles einfach. Du lebst nicht hier. Du musst keinen gelben Hut tragen, damit alle wissen, dass du nicht zu ihnen gehörst. Du bist frei!«
»Dann werde doch auch frei!«
»Und wie?«
»Werde Christin!«
»Soll ich etwa mein Volk verraten? Meinen Vater verraten?« In Giudittas Stimme lag ihre ganze Verzweiflung, die Last ihres Fluches, ihr innerer Kampf. »Bittest du mich etwa darum? Soll ich mir einen Arm, einen Teil meines Herzens, meines Kopfs abtrennen? Nun, sag schon, was genau soll ich mir abtrennen?«
Mercurios Augen füllten sich mit Tränen. Unermesslicher Schmerz zerschnitt ihm die Brust.
»Wie kannst du nur …«, erregte sich Giuditta. Doch dann hielt sie inne. Auch ihr stiegen Tränen in die Augen. Und auch sie spürte diesen heftigen Schmerz, der ihr die Brust zerriss. Sie verstummte. »Was soll ich deiner Meinung nach tun? Soll ich mich auf die Seite derer schlagen, die mein Volk jede Nacht einsperren, wie du es nennst? Oder soll ich gemeinsam mit diesem falschen Heiligen auf den Straßen Venedigs herausschreien, dass mein Volk in den Diensten Satans steht? Dass es unschuldige Kinder stiehlt und ihnen die Kehle durchschneidet, um ihr Blut in Hexenritualen zu vergießen? Wir haben doch nichts außer unserem Fluch, Juden zu sein. Wenn ich auch darauf verzichte … was bin ich dann noch?«
Mercurio seufzte. »Also wird mein Fluch sein, dass ich dich besitze … und doch wieder nicht. Dir zu gehören … und doch wieder nicht.«
Giuditta verbarg ihr Gesicht an seiner Brust und umarmte ihn verzweifelt, als wollte sie damit ihre Gedanken und ihren Schmerz unterdrücken.
Mercurio schob sie sanft, aber entschieden von sich weg und sah sie an.
»Halt mich fest …«, flüsterte Giuditta.
»Für wie lange?«, fragte Mercurio mit brüchiger Stimme. »Bis zum Morgen? Während ich dir immer nur zuflüstern kann, dass ich dich liebe, weil ich es dir niemals laut sagen darf?«
»Glaubst du nicht, dass das für mich genauso unerträglich ist?«, fragte Giuditta und umarmte ihn.
»Doch …«, sagte Mercurio leise. »Doch, mein Liebling …«
Giuditta sah zu ihm auf und schaute ihm eindringlich in die Augen. »Und nun …?«
»Ich bin bereit, Jude zu werden«, sagte Mercurio zu ihr. »Wird mich dein Vater dann akzeptieren?«
Giuditta spürte einen Stich in der Brust, als sie sagte: »Die Christen würden das niemals zulassen.«
»Die Christen interessieren mich nicht. Aber würde dein Vater mich dann akzeptieren?«, beharrte Mercurio. »Und wärst du bereit, mein zu sein?«
»Sie würden dich auf dem Scheiterhaufen verbrennen«, sagte Giuditta.
»Aber wärst du dann mein? Antworte!«
»Ich bin doch schon dein.«
»Nein, das stimmt nicht!«
Giuditta schaute zu Boden.
»Ich bin ein Betrüger, Giuditta. Ich werde einen Weg finden, Jude zu werden, ohne dass mich die Christen auf den Scheiterhaufen bringen. Aber wirst du dann mein?«
Giuditta spürte mit jeder Faser ihres Körpers, dass Mercurio bereit war, für ihre Liebe sein Leben zu opfern.
»Ich habe jetzt ein Schiff«, fuhr Mercurio fort. »Ein richtiges Schiff. Und eine ehrliche Arbeit. Mit dem Geld, das ich verdiene, kann ich es seetüchtig machen. Und dann werde ich dich holen und von hier fortbringen.«
»Fort wohin?«
»An einen Ort, wo wir frei sind, Giuditta, frei. Wo es weder Christen noch Juden gibt, sondern einfach nur Menschen«, sagte Mercurio beinahe wütend.
»Wie kannst du immer nur von Freiheit sprechen und nicht begreifen, dass ich als Jüdin frei sein will?« Giuditta klang erschöpft.
Mercurio stützte sich auf einen Ellenbogen. »Aber das ist …« Er verstummte.
»Was?« Giuditta sah ihn herausfordernd an. »Unmöglich?«
Mercurio senkte den Blick. Er legte sich wieder hin und drehte ihr den Rücken zu.
Giuditta schmiegte sich an ihn und umarmte ihn von hinten. Düstere Verzweiflung raubte ihr alle Hoffnung. Sie erkannte, dass ihre Liebe keine Chance hatte zu überleben, weil sie aus zwei Welten kamen, die einander nur flüchtig berühren durften. Nein, sie würden das Unmögliche nicht schaffen. »Du kannst das nicht verstehen. Du bist in Freiheit geboren«, sagte sie. »Ich nicht. Ich gehöre dem Volk mit den gelben Hüten an …«
Sie lagen schweigend nebeneinander.
Schließlich sagte Giuditta: »Ich muss gehen.«
Mercurio nahm ihre Hand und hielt sie
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