Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
sich vor die Augen. »Wenn du deine Hände anschaust, dann kannst du sagen: ›Sie ähneln denen meines Vaters. Ich habe seine Hände. Ich gehöre zu ihm.‹ Oder dein Vater erzählt dir, dass du die gleichen Hände wie deine Mutter hast, und dann sagst du: ›Ich bin wie meine Mutter. Ich gehöre zu ihr.‹« Mercurio sprach leise, aber voller Leidenschaft und streichelte dabei Giudittas schlanke Finger. Schließlich wandte er sich zu ihr um. Seine Augen waren schmerzerfüllt, aber sie zeigten keine Wut. Sanft fuhr er ihr mit dem Zeigefinger über das Gesicht. »Und sie werden dir sagen, dass du die Lippen deiner Großmutter hast und die Augen deines Großvaters. Du bist Teil von etwas. Und du weißt es, weil du ihre Hände hast, ihre Augen, Lippen, Haare … Sogar ein Sprachfehler würde dir sagen, dass du zu ihnen gehörst.« Mercurio schwieg einen Augenblick, ehe er fortfuhr. »Ich habe nie erfahren, ob ich die Hände meiner Mutter oder die meines Vaters habe. Vielleicht begreife ich deshalb nicht, was so wichtig daran ist, Jude oder Christ zu sein … Denn ich gehöre zu niemandem. Verzeih mir, Giuditta.«
Da brach Giuditta in Tränen aus. Sie schluchzte so heftig, dass sie ihren Kopf im Strohlager verbergen musste, damit man sie nicht im ganzen Haus hörte. Als ihre Tränen schließlich versiegt waren, umarmte sie Mercurio mit aller Kraft, vergrub ihre Fingernägel in seinem Rücken und küsste ihn mit aller Innigkeit. Und dann nahm sie ihn in sich auf, verzweifelt und leidenschaftlich zugleich.
64
A ls Giuditta in die Wohnung zurückkehrte, war Isacco gerade aufgestanden.
»Wo warst du denn?«, fragte er sie abwesend.
»Auf dem Dach …«
»Und was wolltest du da?«
Giuditta blickte aus dem Fenster und sah, wie Mercurio in seiner Verkleidung als Mädchen auf das Tor zuging, das gerade geöffnet wurde. Sie spürte noch die Wärme seines Körpers auf ihrem und fühlte ein Verlangen, von dem sie dachte, dass es niemals wieder erlöschen würde. »Ich wollte sehen, ob es dort oben eher Tag wird.«
»Warum?«
Giuditta beobachtete, wie Mercurio, bevor er zwischen den Menschen auf der Fondamenta degli Ormesini verschwand, sich noch einmal ihrem Fenster zuwandte und ihr zuwinkte, obwohl er sie nicht sehen konnte. Doch in seinem Herzen wusste er, dass sie dort stehen und ihm nachsehen würde, dachte Giuditta. Weil er genau dasselbe getan hätte. »Wenn es Tag wird, heißt das, dass wir frei sind«, erklärte sie. »Für einen weiteren Tag. Zwar nur bis zum Abend, aber wenigstens bis dahin sind wir frei.«
Isacco ließ den Kopf sinken. Er presste die Lippen aufeinander. Dann schlug er die Faust leicht gegen die weiß gekalkte Wand des Zimmers. »Bedrückt dich das so sehr?«
Giuditta löste sich vom Fenster. Mercurio war nicht mehr zu sehen. Sie blickte ihren Vater an. »Dich etwa nicht?«
Isacco hielt dem Blick seiner Tochter nur kurz stand, bevor er sich seufzend abwandte und so tat, als müsste er etwas auf dem Tisch zurechtrücken. »Mich bedrückt es gleich zweimal so stark«, sagte er. »Denn ich habe dich hierhergebracht.«
Erst jetzt wurde Giuditta bewusst, welche Vorwürfe sich ihr Vater ihretwegen machte. Das hatte sie nicht bedacht. »Ich bin froh, dass du mich nach Venedig gebracht hast«, versicherte sie ihm bestürzt.
»Weil hier dieser Betr …«, fing Isacco an, doch dann biss er sich auf die Lippen und fragte: »Weil hier dieser Junge ist?« Er sah zu seiner Tochter hinüber.
Giuditta schwieg.
Isacco ließ sie nicht aus den Augen. »Hältst du mich für einen schlechten Vater?«, fragte er ernst. »Glaubst du, deine Mutter würde sich anders verhalten?«
Giuditta schüttelte den Kopf. »Ich habe meine Mutter nie kennengelernt. Wie soll ich dir darauf antworten?«
Isacco seufzte. »Ach, wäre sie doch nur hier«, sagte er schließlich leise.
»Um für dich die Kastanien aus dem Feuer zu holen?«, erwiderte Giuditta lächelnd.
»Ja, das auch«, sagte Isacco ebenfalls lächelnd. Doch sein Blick wirkte abwesend und betrübt. »Ich vermisse sie so sehr. Mir hat immer etwas gefehlt, seit sie von uns gegangen ist.«
»Als sie mir das Leben geschenkt hat«, fügte Giuditta traurig hinzu.
Isacco sah sie an und kehrte wieder in die Gegenwart zurück. »Hör endlich auf mit diesen Selbstvorwürfen. Das hast du dir bloß eingeredet, und jetzt trägst du diese Last mit dir herum wie einen schweren Stein. Lass ihn fallen, du brauchst ihn nicht.«
Giuditta stiegen Tränen in die Augen.
»Wir
Weitere Kostenlose Bücher