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Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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nicht …«, sagte er noch einmal, doch seine Stimme klang kraftlos.
    »Finde dich damit ab«, sagte Giuditta.
    »Warum …?«
    »Weil etwas passiert ist, womit ich nicht gerechnet habe«, antwortete Giuditta ruhig.
    »Was?«
    »Das ist unwichtig. Nichts ist mehr wichtig.«
    »Wie kannst du nur so grausam sein.« Mercurio schüttelte immer noch ungläubig den Kopf und fühlte sich wie betäubt. »Ich … Ich …«
    In dem Moment begann die Marangona-Glocke zum letzten Mal an diesem Tag den Himmel über Venedig erbeben zu lassen.
    »Es tut mir leid. Ich muss gehen«, sagte Giuditta und hoffte nur, sie würde auf der kurzen Strecke durch das Ghetto Vecchio bis zum Tor, hinter dem sie eingesperrt wurde, nicht zusammenbrechen. Sie wandte ihm den Rücken zu und ging los. Bedächtig und aufrecht.
    »Giuditta«, rief ihr Mercurio hinterher.
    Sie presste die Lider fest zusammen und biss sich auf die Lippen, aber sie blieb nicht stehen.
    Unter einem Bogengang, an dem sie vorüberging, saß ein fahrender Musiker und spielte eine sehnsüchtige Melodie auf seiner Laute.
    »Giuditta …«, rief Mercurio ihr noch einmal hinterher.
    Doch sie ging weiter, ohne sich umzuwenden. Langsam betrat sie den Sottoportego, der auf den Platz des Ghetto Vecchio führte.
    Der Musiker zupfte immer noch leise die Saiten seiner Laute. Sein Lied klang abgrundtief traurig. In dem engen Bogengang, in dem es nach Urin und dem in den Grundmauern sitzenden Schimmel stank, hallten die Töne geisterhaft durch die Dunkelheit.
    Giuditta wusste genau, dass Mercurio ihr folgte. Sie hörte zwar keine Schritte, aber sie konnte seinen Schmerz beinahe körperlich spüren. Doch das war immer noch nicht genug. Sie wusste, dass er gleich noch mehr leiden würde.
    Als sie das Tor zum Ghetto Nuovo fast erreicht hatte, lächelte sie dem Jungen zu, der sie dort erwartete, jenem Joseph, den Mercurio schon einmal gesehen hatte, als Isacco ihn ihr als Beschützer zur Seite gestellt hatte. Giuditta streichelte ihm zärtlich über die Wange. Dann näherten sich ihre Lippen seinem Mund, und sie küsste ihn. Lange und innig.
    Hinter ihr hörte sie Mercurio aufstöhnen. Ein schmerzvoller Laut, der aus seinem Innersten zu dringen schien. Doch ab jetzt würde er sie hassen. Und er würde sie für eine Hure halten.
    Giuditta nahm Joseph bei der Hand, lehnte ihren Kopf an seine kräftige Schulter und ging mit angehaltenem Atem an den Wachen vorbei, die das Tor gerade schließen wollten.
    Sie hörte, wie es krachend hinter ihr zufiel. Wie die Riegel kreischend vorgeschoben wurden. Jetzt erst riss Giuditta keuchend den Mund auf, um Atem zu holen. Ihre Beine gaben nach. Joseph wollte ihr helfen, doch sie stieß ihn gereizt weg und lehnte sich heftig atmend an eine Mauer. Dann machte sie sich auf den Heimweg. Doch diesmal rannte sie.
    Joseph war mitten auf dem Platz des Ghettos stehen geblieben. Er wusste, dass er nicht mehr gebraucht wurde.
    Giuditta trat durch die Haustür. Sie spürte noch den Geschmack von Josephs Lippen auf ihrem Mund, der so anders war als der von Mercurio. Sie fiel in sich zusammen und erbrach sich unten auf der Treppe. Dann schleppte sie sich taumelnd bis in den vierten Stock hinauf. Bevor sie ihre Wohnungstür öffnete, betrachtete sie den Holzboden auf dem Absatz, auf dem sie nackt gelegen hatte, als sie das erste Mal mit Mercurio geschlafen hatte. Sie dachte an den Taubenschlag auf dem Dach und wusste, dass sie niemals mehr hinauf zu diesen Tauben gehen würde, die Zeugen ihres Glücks wie auch ihrer Lust geworden waren. Dann betrat sie die Wohnung und ließ sich dort erschöpft auf den Boden sinken.
    Isacco, der sich gerade hatte schlafen legen wollen, kam aus seinem Zimmer. »Was ist los? Fühlst du dich nicht wohl?«, fragte er besorgt.
    Giuditta antwortete ihm nicht.
    Isacco ging ans Fenster, um die Läden zu schließen.
    Er hörte Mercurio durch die Dunkelheit rufen, ohne jedoch zu verstehen, was er sagte.
    Daraufhin schloss er hastig die Läden und das Fenster. Als er Giudittas Gesichtsausdruck sah, blieb er wie erstarrt stehen. Er hatte nicht den Mut, zu ihr zu gehen.
    »Sag nichts …«, flüsterte Giuditta.
    Isacco verschwand in seinem Zimmer, erschüttert über den Schmerz seiner Tochter, und schloss die Tür hinter sich.
    Wieder zerriss Mercurios Rufen die Dunkelheit.
    Es klang wie das Heulen eines tödlich verwundeten Tieres.

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    W ie soll ich denn ohne dich leben?«, schrie Mercurio und warf sich gegen das Tor. »Was soll ich denn ohne dich

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