Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
ersten Stock des Dogenpalastes, dessen Fenster sowohl zur Anlegestelle als auch auf die Piazzetta gingen.
»Weil …« Mercurio verstummte. Scarabello hatte ihm gesagt, dass dieser Mann jemanden wie den Einäugigen zum Frühstück verspeisen würde. Während das Sonnenlicht, das durch die sieben hohen Spitzbogenfenster hereinfiel, ihn blendete, stellte Mercurio fest, dass Jacopo Giustiniani ganz anders war als der Mann, den er sich bei ihrer ersten Begegnung hinter der Maske vorgestellt hatte. Er hatte eine angenehme Ausstrahlung, sein Blick war sanft, und bislang hatte er ihn höflich behandelt. »Man hatte mir empfohlen, keine Schwäche zu zeigen«, sagte Mercurio seinem Instinkt folgend. »Aber es ist kaum möglich, sich Euch gegenüber nicht unterlegen zu fühlen.«
Der Edelmann, dessen Familie im Goldenen Buch der Stadt eingetragen war und deren Mitglieder somit befugt waren, im Großen Rat zu sitzen, der nicht nur über die Wahl des Dogen entschied, sondern auch über die Geschicke der Republik Venedig, zwinkerte leicht belustigt, während er lächelnd das Siegel zwischen seinen Fingern drehte, das Mercurio ihm in Scarabellos Namen übergeben hatte.
»Der Mann, den ich Euch empfehle, nein, den Scarabello Euch empfiehlt, wollte ich vielmehr sagen«, fuhr Mercurio fort, »ist Hauptmann Lanzafame, einer der Helden aus der Schlacht von Marignano. Obwohl ihn die Serenissima danach tief gedemütigt hat, indem sie ihn den Pferch der Juden bewachen lässt, hat er nie aufbegehrt. Er ist ehrenwert und tapfer und ein guter Freund von einem Doktor, einem Mann, der sich aufopfert, um sich der Seuche der Französischen Krankheit entgegenzustellen …«
»Warte einen Augenblick, Junge«, unterbrach ihn Jacopo Giustiniani und zog die Augenbrauen hoch. »Reden wir etwa von demselben Arzt, den Scarabello aus dem Castelletto verjagt hat?«
»Nun ja …«, stammelte Mercurio verlegen, »ja, ich glaube schon, dass es sich … um denselben Arzt handelt …«
»Und warum will er ihn jetzt auf einmal beschützen?«, fragte Giustiniani unerbittlich weiter.
»Nicht ihn … also, das ist so …« Mercurio war in der Zwickmühle. Er hatte nicht bedacht, dass dies als ein Widerspruch in sich aufgefasst werden könnte, und fürchtete, dass sein ganzer Plan nun schon im Ansatz scheitern würde.
»Na gut, das ist bedeutungslos. Mich interessiert nicht, was Scarabello umtreibt«, sagte Giustiniani hastig.
Mercurio kam der verächtliche Klang seiner Bemerkung nicht ganz überzeugend vor. Übertrieben und in gewisser Weise aufgesetzt. »Also, da die Angeklagte mit Namen Giuditta di Negroponte nun zufällig die Tochter dieses Doktors ist, wäre es besonders edelmütig von Eurer Exzellenz, wenn Ihr sie von jemandem beschützen ließet, den sie kennt, damit sie ein wenig Trost hat …«
»Warum hängt Scarabello an diesem Mädchen?«, unterbrach Giustiniani ihn brüsk.
Mercurio sah ihn an. Jetzt musste er sich entweder eine gute Ausrede einfallen lassen oder die Wahrheit sagen. Er entschied sich für die Wahrheit. »Scarabello ist nicht derjenige, dem sie am Herzen liegt.«
»Ach so …« Giustiniani sah Mercurio an und nickte. »Also gut, und warum hängt Scarabello dann also an dir?« Der Edelmann lächelte wehmütig. Dann wanderte sein Blick kaum merklich in Richtung der beiden Pagen, und er fragte leise: »Bist du sein Neuer, Junge?«
»Nein, Euer Gnaden«, erwiderte Mercurio. »Ich arbeite nicht für ihn.«
Jacopo Giustiniani sah ihn an und lachte amüsiert. »Ich meinte damit nicht, dass du für ihn arbeitest«, sagte er. Dann verlor sich sein Blick wieder für einen Moment sehnsüchtig in der Ferne, ehe er Mercurio gutmütig musterte. »Ich sehe, er hat dir nichts erzählt«, sagte er.
»Wovon sprecht Ihr, Euer Gnaden?«, fragte Mercurio irritiert.
Jacopo Giustiniani schüttelte den Kopf. »Nichts weiter«, sagte er, als wäre er über derart weltliche Dinge erhaben. Seine tiefblauen Augen wanderten noch einmal kaum merklich in Richtung der beiden Pagen. »Ich werde anordnen, dass Hauptmann Lanzafame die Bewachung der Gefangenen übertragen wird.«
»Euer Gnaden …«, sagte Mercurio und hielt den Edelmann auf, der im Begriff stand, den Raum zu verlassen. »Das Siegel …«
Jacopo Giustiniani betrachtete das Siegel, mit dem er bis jetzt gespielt hatte. Ein Siegel, das er genau kannte, weil das Wappen seiner Familie in den Karneol eingeschnitten war. Er entdeckte ein langes weißes Haar, das sich in der Kette verfangen
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