Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
auf, und ihre Lippen waren nicht mehr so rot und voll, wie er sie in Erinnerung hatte. Auch ihre aufreizende Haltung war verschwunden, sie wirkte müde, hielt die Schultern nur mühsam aufrecht, und in ihrem matten Blick lagen Hoffnungslosigkeit und Trauer.
Shimon sah das Mädchen an, öffnete den Mund und stieß einen schaurigen Zischlaut aus.
Das Mädchen wich erschrocken zurück.
Eine Wache stieß Shimon vorwärts, und eine andere schlug ihn mit dem Schwertknauf ins Gesicht.
Während er unter den anzüglichen Kommentaren und Pfiffen der anderen Gefangenen, an die er gekettet war, zum Gefängniswagen lief, schüttelte es Shimon heftig vor Kälte und Müdigkeit, denn er litt noch unter den Folgen der Droge, mit der man ihn betäubt hatte. Seine nackten Füße, die in dem feuchten Boden versanken, waren eiskalt. Sein Mund schmeckte nach Blut, ein Gefühl, das ihm inzwischen sehr vertraut war.
Ich werde dich nicht vergessen, schickte er als stumme Botschaft an das Mädchen und drehte sich zu ihr um.
Die Wachen halfen ihm in den Wagen und ketteten ihn an die Bank an.
»Wir hätten ihn töten sollen«, sagte das Mädchen zu dem alten Mann, laut genug, dass Shimon es hören konnte.
»Hat er dir so viel Angst gemacht?«, fragte der Alte lachend.
»Der widert mich an.«
»Es ist zu gefährlich, sie zu töten, das weißt du doch.«
Das Mädchen starrte Shimon an, und dieser hielt dem Blick stand.
Dann schlossen die Wärter die Wagentür.
Ich werde dich nicht vergessen, sagte sich Shimon noch einmal.
Der Wagen fuhr los. Nach kurzer Zeit rollte sich der Gefangene, der am Abend vorher über Unterleibsschmerzen geklagt hatte, auf der Bank zusammen und atmete schwer.
»Jetzt stirb endlich, du gehst mir auf den Sack«, sagte einer der Gefangenen, und alle außer Shimon stimmten in sein Gelächter ein.
Nach einer halben Stunde wurde das Jammern lauter.
»Ja, kratz schon ab«, sagte ein anderer der Gefangenen.
»Brauchst du jemanden, der dir beim Sterben ein wenig zur Hand geht?«, fragte der Gefangene neben ihm und versetzte ihm einen derben Stoß in den Magen.
Und wieder lachten alle, außer Shimon.
»Macht dir das etwa keinen Spaß, du stummer Drecksack?«, fragte ihn der Gefangene, der ihm gegenübersaß, lehnte sich vor und spuckte ihm ins Gesicht.
Shimon zeigte keine Reaktion.
Als sie schließlich eine in einen Buchenwald eingebettete Anhöhe erreichten, verwandelte sich der keuchende Atem des kranken Gefangenen in ein Röcheln. Der Mann stieß einen letzten langen Atemzug aus, dann regte er sich nicht mehr und wurde von dem Rütteln der Kutsche hin und her geworfen.
»Heh, endlich ist der tot«, schrie der Gefangene, der neben ihm angekettet war. »Werft ihn den Wölfen vor! Ich will nicht mit einer Leiche fahren!«
Die Kutsche hielt an. Die Tür wurde geöffnet.
Im gleichen Augenblick durchbohrte ein Pfeil die Kehle des Wärters, der die Tür geöffnet hatte. Drinnen in der Kutsche hörten Shimon und die anderen Gefangenen Schreie, Getrappel von Pferdehufen, dumpfe Schläge, Flüche und Gebete. Dann war alles still.
Ein hässliches, vom Hunger ausgemergeltes Gesicht zeigte sich in der Tür der Kutsche. Hinter ihm folgten etwa ein Dutzend Männer, von denen viele blutbefleckt waren. »Du bist frei, Hauptmann«, sagte der Mann mit dem ausgezehrten Gesicht.
Der Mann, den alle für tot gehalten hatten, richtete sich auf.
Einer der Räuber stieg in den Wagen und machte seine Knöchel los. »Schön, dich wiederzusehen, Hauptmann«, sagte er.
Der Mann antwortete ihm nicht. Er nahm ihm das Messer aus dem Gürtel und durchschnitt damit kommentarlos die Kehle des Gefangenen, der ihm den Stoß in den Magen versetzt hatte. Dann verließ er den Wagen und befahl seinen Leuten: »Tötet sie alle.«
Sofort stieg einer der Räuber in den Wagen und stieß dem ersten Gefangenen, dem Mann neben Shimon, das Schwert in die Brust.
»Den nicht«, sagte der Räuberhauptmann, der inzwischen auf einem Pferd saß, und zeigte auf Shimon. »Ich weiß nicht, warum du nicht gelacht hast, Stummer … Aber heute ist dein Glückstag.«
Die Räuber erledigten die anderen Gefangenen, dann warfen sie Shimon die Schlüssel für seine Ketten zu und verschwanden im Galopp.
Shimon öffnete das Schloss, verließ den Wagen und suchte den Hauptmann der Wachen. Ein Pfeil war ihm durch das linke Auge gedrungen und hinten am Schädel ausgetreten. Shimon kam der Anblick geradezu lächerlich vor. Er durchsuchte die Taschen des Mannes, holte
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