Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman
China stand ihm bevor. Er nutzte die Gunst der Stunde und beantragte eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Nach einigem Hin und Her ging sein Wunsch in Erfüllung. Er fand einen Job bei einem großen Konzern, aber seine Aufstiegschancen waren sehr klein. China galt als fernes Entwicklungsland, und der Chinahandel war noch gering. 1992 schmiss er die Arbeit hin und machte mit seiner sechs Jahre jüngeren Kommilitonin Yu Yeye das Restaurant Strahlende Perle auf. Sie schufteten vom Morgen bis tief in die Nacht, um die Kredite zurückzuzahlen. Aber sie lachten viel und waren glücklich miteinander. Als der Sohn Michael sich in Yeyes Bauch eingefunden hatte, heirateten sie. Es war die schönste Zeit ihres Lebens.
Berlin war gerade erst wieder Hauptstadt geworden,und die Strahlende Perle entwickelte sich wegen ihrer günstigen Preise zum beliebten Lokal für die vielen neuen Bürger der Stadt und die Touristen. Das Geschäft lief so gut, dass Vater Guan seiner Tochter später erzählte: »Was wir damals jeden Tag nach Hause brachten, war so viel wie ein Goldbarren.«
Als sich die Goldbarren häuften, hörte Guan Baohan auf, Gemüse zu putzen und Teller zu tragen. Er stieg ins Immobiliengeschäft ein und übernahm sogar einen Supermarkt. Von da an verbrachte er seine Tage nicht mehr mit seiner Frau, und sie bekam ihn kaum noch zu Gesicht. Mendy vermutet, dass ihm damals auch seine Ehe wie ein ausgewachsener Stiefel zu eng wurde. Als Mendy 2001 nach Berlin kam und ihre Stiefmutter kennenlernte, war Yeye schon eine unglückliche Frau.
Jedes Mal, wenn Mendy sie mit angeschwollenem Gesicht sieht, hat sie Mitleid mit ihrer Stiefmutter. Eine Lösung für das Eheproblem hat sie jedoch nicht.
Sie versucht, Yeye zu beruhigen. »Hat Vater nicht gesagt, in China kann heutzutage jeder Analphabet Millionär werden? Wenn das stimmt, wird er bei seiner nächsten Reise sicher wieder viel Geld verdienen. Lass ihn ein paar Tage in Ruhe, bis seine Wut verraucht ist.« Dann fragt sie: »Ist Tubai beim Einkaufen?«
»Einkaufen? Nein. Dein Vater hat ihn nach Potsdam zurückgeschickt.« Stiefmutter Yeye tupft sich erneut die Augen mit einem Taschentuch.
Mendy erblasst. »Oh nein! Aber wieso denn? Was hat er denn getan? Wo ist er jetzt?«
»Er ist weggerannt. Ich weiß nicht, wohin.«
Mendy springt auf. Sie müsse schnell nach Hause, sagt sie. Vielleicht sei Tubai noch beim Kofferpacken. Vielleicht könne sie ihn ja zurückhalten.
Yeye schüttelt den Kopf. »Tubai war doch der Grund, weshalb dein Vater ausgerastet ist. Er hat ihm verboten, weiter bei dir zu übernachten. Deinetwegen.«
»Aber Tubai würde mir nie etwas antun. Ich gehe zum Vater und rede mit ihm.«
Doch Yeye hält sie am Arm fest. »Lass das«, sagt sie auf einmal in strengem Ton. »Dein Vater hat Tubai bereits entlassen. Er hat mich angebrüllt, nach dem Brand hätte Tubai sofort verschwinden müssen, warum wir ihn hier noch hätten herumlaufen lassen? Wenn ihn die Behörden erwischten, hätten wir so viel Bußgeld zu zahlen, dass es einem zweiten Brand gleichkäme. Dein Vater hat völlig recht: Tubai muss verschwinden. Bitte, fang jetzt keinen Streit mit ihm an. Er hat sich erst heute wieder über sein Herz beklagt. Ich möchte nicht, dass er deinetwegen ins Krankenhaus muss.«
Kraftlos lässt Mendy sich auf einen Stuhl fallen. »Nun ja«, sagt sie bitter. »Ist ja euer Restaurant. Natürlich hat Papa jetzt wieder die Entscheidungsmacht.«
In diesem Moment klingelt das Telefon. Es ist Vater Guan. Ob Mendy schon da sei? Sie solle sich sofort bei ihm einfinden.
»Keinen Widerspruch!«, schärft Yeye der Stieftochter ein. »Wenn er dich beschimpft, dann hör es dir einfach nur an. Keinen Streit, hast du gehört?« Ihre Finger krallen sich so fest um Mendys Handgelenk, dass sie alle Knochen spürt.
Mendy nickt und verlässt die Stiefmutter stumm. Als sie im Hinterhaus ihren Vater erblickt, wie so oft mit dem Handy am Ohr, spürt sie eine Mischung aus Wiedersehensfreude und Schuldgefühl wegen des ruinierten Restaurants. Sie zwingt die Mundwinkel in Richtung Ohren und lächelt: »Papa, deine Haare sind ja wieder pechschwarz geworden. Und ein bisschen dünner kommst du mir auch vor. Die Reise in die Heimat hat dich verjüngt.« Die Sorgenfalten, die sich noch tiefer in seine Stirn gegraben haben, übersieht sie geflissentlich.
Vater Guan klappt das Handy zu und starrt die Tochter an, als wäre ein Schafswolf hereinspaziert. »Wie siehst du denn aus?«
Mendy folgt
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