Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman
herzzerreißendes Schluchzen die kleine Wohnung. Sie trauert – denn es ist schrecklich, erwachsen werden zu müssen.
Als es dunkel wird, verlässt Boss Guan unauffällig das Haus. Zwischen seinen Brauen braut sich etwas zusammen. Er blickt hoch. Aus den Fenstern der ehelichen Wohnung dringt Licht. Frau und Sohn warten wahrscheinlich schon mit dem Abendessen auf ihn. Leise trabt er zu seinem Auto. Als er hinter dem Steuer sitzt, zieht er sein Handy heraus, wählt die Nummer der Wohnung und sagt seiner Frau, sie solle mit dem Essen nicht auf ihn warten, dann fährt er los.
Was für ein eigenartiger Tag! Er hat siebenmal bei Peipei angerufen, bis er sie endlich erreicht hat. Nach der langen Reise quält ihn das Verlangen nach ihr. Er vermisst ihre Milchhaut, ihre schlanken Arme, ihre lächerliche Frisur, ihre sanften Rundungen, ihre Art, ihn zu necken. Am Ende haben sie lange telefoniert,bis seine Ohren ganz wund waren, doch gekommen ist sie nicht, und er saß wieder alleine in seinem Büro.
Angeblich hat sie sich riesig gefreut, dass er ihr Sachen aus China mitgebracht hat, die sie sich gewünscht hat. Aber nach einer Stunde war sie immer noch nicht da. Stattdessen ein Anruf, sie habe einen Termin mit dem Tutor vergessen und müsse schnell in die Uni, dann werde sie kommen.
Stunden später hieß es, in der Uni sei sie jetzt fertig, müsse aber zu Hause noch einige Seiten tippen. Außerdem müsse sie einkaufen gehen, denn sie habe zu Hause nichts mehr zu essen. Aber sie werde heute noch zu ihm kommen. Wenn es dunkel sei, umso besser. Sie hätten ja noch die ganze Nacht. Boss Guan gab sich damit zufrieden, aber als er nach einer Weile wieder anrief, ging sie nicht mehr ans Telefon.
Irgendwann hat er sie dann doch erreicht, aber sie druckste herum, als wäre noch jemand bei ihr. Verdammt! Früher hat er sie mit einem einzigen Anruf zu sich bestellt, und jetzt spielt sie Katz und Maus mit ihm. Der Sache will er jetzt auf den Grund gehen.
Auf der lauten Turmstraße in Moabit hält er an. Da es dunkel ist und viele Leute unterwegs sind, fällt es nicht auf, dass er zehn Minuten mit einer hübschen neuen Damenhandtasche und ein paar Einkaufstüten vor Peipeis Haus hin und her geht, bis endlich jemand herauskommt. Boss Guan zertritt seine Zigarette und schiebt sich rechtzeitig durch die Tür, ehe sie wieder zufällt.
Auf der vertrauten fünften Etage im Seitenflügel angekommen, wartet Boss Guan, bis sich die Treppenhausbeleuchtung ausschaltet, dann schleicht er sich an die Tür von Peipei und legt das Ohr an das immer wieder überstrichene Holz.
Tief in der Wohnung hört er das Gemurmel von Stimmen. Er presst sich minutenlang an die warme Tür wie ein riesiger Hausgecko. Als er sich davon löst, muss er sich dehnen und schütteln, um wieder beweglich zu werden. Von Dunkelheit umhüllt, setzt er sich auf die Treppe. Hier kennt er sich aus, und er weiß, er kann sich oben vor dem Eingang zum Dachboden verstecken, wenn er unbemerkt bleiben will.
Ein Flämmchen flackert aus seinem Feuerzeug und beleuchtet die triste Umgebung. Mit einer Zigarette zwischen den Lippen und einem Gesicht wie geschnittenes Gras nähert er sich der Flamme. Doch dann besinnt er sich, dass der Rauch ihn verraten könnte, und steckt das Feuerzeug wieder ein.
Es vergeht eine Ewigkeit, bis Schritte aus Peipeis Wohnung ertönen, die sich der Tür nähern.
»Du Teufelsengel, du hast mich wachsweich gestoßen«, flüstert Peipei. »Ich kann kaum noch laufen.«
Ein geschmeicheltes männliches Lachen. Undefinierbare tierische Laute. Dann plumpst etwas Schweres gegen die Tür. Stoff raschelt, Seufzen und Stöhnen. Die beiden Stimmenbesitzer scheinen sich heftig zu winden. Boss Guan beißt die Zähne zusammen, seine Hände krampfen sich um die nutzlosen Geschenke aus China.
»Aber jetzt muss ich wirklich gehen, sonst komm ich gar nicht mehr weg«, gurrt die männliche Stimme, dann wird der Riegel zurückgeschoben, und die Türöffnet sich.
»Wollen wir am Wochenende noch mal singen üben?«, fragt Peipei, die Hände um den Nacken des Mannes geschlungen. Sie trägt nur einen Bademantel, ihre Füße sind nackt.
»Ja«, sagt der Mann. Rückwärts schiebt er sich aus der Tür und zieht die Frau dabei mit. Seine linke Hand tastet schon nach dem Lichtschalter im Treppenhaus.
Boss Guan stehen die Haare zu Berge. Jetzt, im Licht aus der Wohnung, hat er endlich den Hinterkopf des Mannes klar vor Augen. Dieser Mann, der Peipei gerade wachsweich geklopft
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