Das Mädchen in den Wellen
Nora ihr.
»Das Gefühl habe ich aber. Ich wusste von ihren Problemen, doch so schlimm habe ich sie noch nie erlebt.« Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Zündschlüssel.
»Ich scheine diese Wirkung auf Menschen zu haben.« Nora versuchte, einen lockeren Tonfall anzuschlagen, während sie mit zitternden Händen den Sicherheitsgurt anlegte.
»Ich hab gleich gesagt, wir sollen nach Hause fahren«, erklärte Ella.
»Wir sind bald da«, versprach Maire. »Ich muss nur noch die Schlüssel finden. Die Tasche ist einfach zu groß, in der findet man einfach nichts. Manchmal komme ich mir vor wie ein Zauberer mit seinem Zylinder. Polly meint, eines Tages werde ich ein Kaninchen rausziehen.«
»Ich meine unser richtiges Zuhause in Boston«, erklärte Ella.
»Wir sind doch grade erst hergekommen«, beklagte sich Annie. »Die Frau hat mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
»Lasst euch nicht von Maggie einschüchtern«, sagte Maire, die immer noch in ihrer Handtasche wühlte.
Hoffentlich hat Maire die Schlüssel nicht im Laden gelassen, dachte Nora. Der Gedanke, noch einmal hineinzumüssen, behagte ihr nicht.
»Ich hab vor nichts Angst«, erklärte Ella. »Aber ich mag sie nicht.«
»In letzter Zeit hat sie sich verändert. Bitte macht euch deswegen kein falsches Bild von ihr und der Insel. Bis morgen hat sie’s wahrscheinlich vergessen. Ihr Kurzzeitgedächtnis ist nicht das beste. Ich vergesse auch viel. Hängt vermutlich mit dem Alter zusammen.« Da fiel ihr ein, dass sie die Schlüssel vor Betreten des Ladens in die Jackentasche geschoben hatte. Sie holte sie heraus und steckte einen ins Zündschloss.
»Kennst du sie gut?«, fragte Nora.
»Hier auf der Insel kennen sich alle irgendwie«, antwortete Maire und ließ den Motor an. »Ich würde aber nicht sagen, dass die Familien einander nahestehen, nicht seit …«
Sie zuckten zusammen, als es an der Scheibe klopfte. Es war Alison, die Nora signalisierte, dass sie das Fenster herunterkurbeln solle. »Sie haben Ihre Sachen vergessen.« Alison reichte Nora die Tüten und holte die Blumenkästen. »Tut mir leid, was da drin passiert ist. Dad will Oma nicht im Laden haben, aber sie führt sich immer noch auf, als würde er ihr gehören. Achten Sie gar nicht auf sie. Sie leidet unter Demenz, hat gute Tage und schlechte. Außerdem wollte ich Ihnen sagen, dass die Donnerstage am günstigsten sind, wenn Sie wiederkommen wollen. Da ist sie immer bei meiner Tante im Norden der Insel und läuft Ihnen nicht über den Weg.«
Nora bedankte sich für die Information.
»Beehren Sie uns doch bald mal wieder«, sagte Alison trocken. »Sonst geht’s hier nicht so dramatisch zu.«
»Tschüs.« Maire lenkte den Wagen vom Parkplatz auf die Hauptstraße hinaus.
Alison winkte ihnen vom Gehsteig aus nach. Bald wichen die eng aneinandergereihten Cottages und anderen Gebäude offenen Feldern, auf denen Schafherden, Ziegen, Kühe und hin und wieder ein Pferd grasten.
»Für wen hat Maggie Scanlon mich denn gehalten?«, fragte Nora, als sie an einem kaputten Zaun aus verwittertem grauem Holz vorbeikamen.
Maire antwortete nicht sofort. »Für deine Mutter.«
Später, nach einem Abendessen aus dicker Fischsuppe und selbst gebackenem Brot bei Maire, spielten die Mädchen auf der Terrasse, während die Frauen bei einem Glas Wein vor dem Kamin plauderten. Maire war der Meinung, dass sie sich nach der Aufregung des Nachmittags ein Gläschen oder zwei verdient hatten.
Sie saßen auf dem meergrünen, mit Chenillestoff bezogenen Sofa, das Maire selbst neu aufgepolstert hatte, die Kissen darauf weich und einladend. Ein Stapel Gartenbücher von Rosemary Verey und Gertrude Jekyll lag auf dem Beistelltischchen unter einer Lampe mit Seidenschirm, die Lieblingspassagen mit Post-its markiert, dazu ein Gartenkalender, beim aktuellen Datum aufgeschlagen, mit Notizen darüber, was in diesem Monat zu erledigen war und was Maire gepflanzt hatte. Sonnenlicht drang durch die Vorhänge und sprenkelte die schieferblauen Wände mit Licht- und Schattenpunkten. Die Türen waren geöffnet, um das, was vom Tag noch übrig war, hereinzulassen.
»Kann ich noch irgendwas für euch tun?«, fragte Maire. »Habt ihr genug Platz im Cottage? Ihr könnt auch jederzeit hier in Cliff House wohnen …«
»Wir haben genug Platz, wir sind ja nur zu dritt«, antwortete Nora, die jetzt, da die Mädchen draußen waren, freier sprechen konnte. »Mein Mann Malcolm ist in Boston.«
»Dann sind die Fronten
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