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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Barbieri
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Zeit. Hatte ihre Mutter sie dort drüben, bei den kleinen Tümpeln, die die Flut hinterließ, geboren? Dort auf dem weichen Stück Sand, wo die Felsen sich zu einem perfekten Halbmond formten?
    Klaviermusik wehte über die Felder von Maires offenem Fenster herüber, verstummte abrupt und begann dann wieder. Maire hatte gesagt, dass sie gern am Abend spiele, hauptsächlich Debussy; darin drückte sie Leidenschaft und tiefe Gefühle aus, die sie nicht in Worte fassen konnte. Noras Tante besaß Talent, das hörte man. Hatte sie in jungen Jahren gar eine Musikerkarriere angestrebt?, fragte sich Nora.
    Ella schlug im Takt nach einer Mücke. Nora wunderte es, dass nicht mehr von den Quälgeistern herumflogen. Maire behauptete, im Frühjahr seien sie zahlreicher und außerdem dezimierten der Wind und die Schwalben sie; zu dieser Jahreszeit mache sie sich kaum jemals die Mühe, Mückenschutzmittel zu verwenden. Nur schade, dass es kein Mittel gegen fremdgehende Ehemänner und ihre Geliebten gab, dachte Nora.
    »Worüber denkst du nach?«, wollte Ella wissen.
    »Über Insekten.« Zu deren niedrigsten Formen ihr Mann gehörte. »Hat die Mücke dich gestochen?«
    Ella schüttelte den Kopf. »Ich hab sie grade noch rechtzeitig erwischt.«
    Annie marschierte trötend voran, als führe sie eine Blaskapelle an.
    »Klingt wie ein Furz«, stellte Ella fest.
    »Nicht so derb, El«, ermahnte Nora sie.
    »Ist aber doch wahr. Willst du bei dem Wettschwimmen mitmachen?«, fragte Ella. »Wir haben euch drüber reden hören. Wir könnten dir beim Trainieren helfen.«
    »Ihr kleinen Lauscher. Vielleicht. Sie sagt, es gibt auch kürzere Distanzen, für die ihr Mädels euch anmelden könntet – wahrscheinlich habt ihr das auch gehört.«
    Ella war sehr ehrgeizig, egal, ob beim Kartenspiel, in der Schule oder im Sport. (Beim Tennis war es schon vorgekommen, dass sie nach einer Niederlage wütend den Schläger weggeschleudert hatte und vom Platz gestapft war.) »Ich werde jeden Tag schwimmen«, erklärte sie. Beide Mädchen hielten sich gern im Wasser auf. Annie war eine vielversprechende Taucherin, Ella schwamm ziemlich schnell. »Meinst du, ich könnte gewinnen?«
    »Ich glaube, du schaffst alles, was du dir vornimmst.«
    Nora bückte sich, um Meerglasstücke aufzuheben. Es war gerade noch hell genug, um etwas zu erkennen. Grüne, blaue, einige lavendelfarbene und weiße, manche Stücke milchig, andere klar. »Nixentränen« nannte Maire sie. Maeve hatte sie ebenfalls gesammelt. Vor Noras geistigem Auge blitzte eine Erinnerung an Gläser auf dem Fensterbrett des Cottage auf, die ihr Vater in einem Streit mit ihrer Mutter auf den Boden geschleudert hatte, so dass die Scherben über den Boden klapperten. »Nicht drauftreten!«, hatte ihre Mutter, ein schmales Blutband um den Zeh, gerufen. Nora hatte sich an der Tür zu ihrem Zimmer geduckt, als ihr Vater in den gewittrig schwülen Nachmittag hinausmarschiert war. Dann nur noch das Wischen des Besens, als Maeve die Splitter wegfegte und wegwarf, bis auf einen einzigen, den Nora aus einem Winkel rettete und unter ihrem Kissen verbarg.
    »Warum sammelst du Meerglas? Willst du’s in Gläsern aufheben wie Tante Maire?«, fragte Annie.
    »Ich hab mir gedacht, wir könnten Schmuck draus machen.« Vielleicht im viktorianischen Stil, verspielt, nicht wie die Sachen, die sie in den Strandläden des Festlands gesehen hatte. In ihrem Kopf formten sich bereits Entwürfe. Es erstaunte sie, wie viele Ideen sie hatte. Jetzt bot sich die Gelegenheit, die Fähigkeiten einzusetzen, die sie sich in Kunstkursen angeeignet hatte, nachdem sie aus der Anwaltskanzlei ausgeschieden war, um Zeit für die Kindererziehung zu haben.
    »Wir helfen dir!« Sie hoben ganze Hände voll vom Boden auf, manche Stücke verwertbar, andere nicht. Nora würde sie später sortieren.
    »Schau«, sagte Annie. »Die Seehunde surfen.«
    Das Meerglas wog schwer in Noras Taschen, zog sie herunter, doch sie konnte nicht aufhören mit dem Suchen, weil sich immer ein noch größerer Schatz, ein noch perfekteres Stück fand. Die Aufgabe erforderte fast meditative Konzentration, die sie beruhigte und von ihren Gedanken an Malcolm, Boston und die Zukunft ablenkte. Sie stellte sich vor, den Strand täglich abzusuchen, zu schwimmen, zu lesen, mit Maire im Garten zu arbeiten. Schon erahnte sie das ruhige Muster, das ihre Tage auf der Insel bestimmen würde.
    »Hier ist es schön«, stellte Annie fest.
    »Kommt Dad auch?«, fragte Ella. »Er hat’s

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