Das Mädchen in den Wellen
Leben verloren. Wahrscheinlich hielt er Maeve für einen Engel. Er hat sie immerzu angesehen, obwohl es andere Frauen gab, die sich für ihn interessierten.«
»Zum Beispiel Maggie Scanlon?«
»Vielleicht.«
»Und meine Mutter hat sich in ihn verliebt?«
»Ich glaube schon. Es war ein Skandal, dass sie sich in einen Mann verguckt hat, der nicht von der Insel kam. Seinerzeit haben die Leute nur selten Fremde geheiratet. Na ja, letztlich ist das heute noch so.«
»Waren sie glücklich miteinander?«
Es gab keine einfachen Antworten, jedenfalls nicht bei Maeve. »Maeve war immer ein unruhiger Geist gewesen, aber mit deinem Vater ist sie ruhiger geworden und hat das Cottage, in dem ihr jetzt seid, in ein Zuhause verwandelt, das Cottage, das von Rechts wegen dir gehört.«
»Mir?«
»Du bist nach mir die letzte McGann.« Maire sah Nora an. »Ich habe Maeve nie so zufrieden erlebt wie damals. Sie war ganz aus dem Häuschen, als sie gemerkt hat, dass sie schwanger ist.«
»Ich bin hier geboren?«
»Am Strand. Als der Geburtstermin näher rückte, ist Maeve immer seltsamer geworden. Sie wollte dich unbedingt im Meer zur Welt bringen. Fast wäre ihr das gelungen, aber zum Glück haben wir sie rechtzeitig gefunden.« Sie war, Selbstgespräche führend, die ganze Zeit im seichten Wasser auf und ab gegangen. Eine Woche vor dem errechneten Geburtstermin hatte Maire Maeve dann aufschreien gehört.
»Wollte sie …?«
»Dich ertränken? Nein. Ich glaube, das war ihre Vorstellung von einer Wassergeburt. Im Winter wäre sie wahrscheinlich nicht auf eine solche Idee gekommen. Du warst ein reizendes kleines Ding und hast nie geweint.« Ein richtiger Wonneproppen mit fast acht Pfund, einem schwarzen Haarschopf und wachen dunklen Augen. Maire erinnerte sich, wie interessiert die kleine Nora geschaut hatte – auf die Gesichter der Frauen und besonders die Wellen, die ihr ganz eigenes Wiegenlied sangen.
»Vielleicht fühle ich mich deshalb seit jeher zum Meer hingezogen.«
»Schwimmst du gern? Deine Mutter hat es geliebt und jedes Jahr das Wettschwimmen ihrer Altersgruppe im offenen Meer gewonnen. Es soll diesen Sommer wieder stattfinden. Möchtest du dich anmelden? Die Mädchen könnten auch mitmachen, auf den kürzeren Strecken.«
»Möglicherweise tun wir das«, sagte Nora.
»Das Meer ruft uns, stimmt’s?«, stellte Maire fest. »Was habe ich neulich gelesen? Dass wir das Meer in uns tragen, weil wir aus Salz und Wasser bestehen?«
»Ja, das habe ich auch schon gehört.«
Die Frauen wandten sich dem offenen Fenster zu. Das Geräusch der Wellen wurde über die Klippen herübergetragen, die kühle Brise bauschte die Vorhänge und vermischte sich mit den Stimmen der Mädchen.
»Aber irgendwann ist etwas passiert, oder? Ich meine, mit meinen Eltern?«, fragte Nora. »Haben sie sich nach meiner Geburt auseinandergelebt?«
»Sie haben sich hier ein glückliches Leben aufgebaut. Dein Vater ist der neue Hafenmeister geworden. Er hatte zuvor für eine Reederei in Boston gearbeitet; wir konnten uns glücklich schätzen, einen so erfahrenen Mann in unserer Mitte zu haben. Und deine Mutter hat wieder ihre Wanderungen aufgenommen, wie früher, vor deinem Vater und dir. Keine Ahnung, was in sie gefahren ist. Sie hatte diesen abwesenden Blick.« Bisweilen hatte Maire sie dabei ertappt, wie sie hinter den Felsen, bei der Landspitze, mit jemandem stritt, aber wenn sie dann zu ihr ging, war Maeve allein gewesen.
»Hatte sie nach der Geburt Depressionen?«
»Schwer zu sagen«, antwortete Maire. »Sie wollte mir nicht verraten, was sie beschäftigte.« Maire klappte das Album zu. Sie hatte nicht geahnt, wie anstrengend ein Blick in die Vergangenheit sein konnte.
Die Sonne wanderte zum Horizont, so dass die Mädchen und das ferne Ufer von Little Burke sich dunkel vor dem gold-lilafarbenen Himmel abzeichneten.
Maire gähnte. »Leider vertrage ich nicht mehr so viel Wein wie früher. Ich fürchte, ich muss ins Bett.«
»Nach der langen Nacht ist das kein Wunder.« Nora hätte das Gespräch gern fortgeführt, war jedoch zu höflich, darauf zu bestehen.
»Es gibt kaum etwas Schöneres, als ein neues Leben in die Welt zu bringen. Babys sind ein großes Geschenk.« Maire drückte sanft Noras Hand. Wie du damals.
Als Nora und die Mädchen über den Strand nach Hause gingen, färbte das Dämmerlicht die Wellen dunkel. Über den Strand, auf dem Nora das Licht der Welt erblickt hatte, im Spiel der Gezeiten, an jenem Abend vor so langer
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