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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Barbieri
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geklärt?«
    »Nein, noch nicht. Wir brauchen beide Abstand, um uns über die Situation klar zu werden. Oder zumindest ich. Es ist das Beste so. Die Medien verfolgen ihn auf Schritt und Tritt.« Sie zog an einem losen Faden ihres grünen Pullovers, der die Farbe ihrer Augen besonders gut zur Geltung brachte. »Ich wünschte, du hättest uns gekannt, bevor das alles passiert ist. Wir waren wirklich mal ein sehr schönes Paar.«
    »Das glaube ich gern. Und es könnte wieder so werden.«
    »Möglich«, sagte Nora, nicht allzu optimistisch. »Was ist mit deiner Familie?« Sie deutete auf die Fotos auf dem Kaminsims.
    »Joe und Jamie sind vor drei Jahren beim Fischen verunglückt.«
    »Das tut mir leid. Ich wusste nicht …«
    »Wir haben so lange getrennt voneinander gelebt, nicht wahr?« Sie wusste so wenig über Nora.
    »Ja. Und nach dem Vorfall heute im Laden habe ich das Gefühl, dass ich kaum etwas über meine Mutter weiß.«
    Maire schwenkte den Wein in ihrem Glas und betrachtete ihn versonnen.
    Sie hatte es sich zur Regel gemacht, nicht oft über Maeve zu sprechen, obwohl diese in ihren Gedanken stets präsent war. Alles Mögliche erinnerte sie an sie – die Farbe Lila (wie der Himmel am Abend oder die Wellen); der Klang des Glockenspiels, das sie so gern berührt hatte, wenn sie zur hinteren Tür hereinkam; Jakobsmuscheln in der halben Schale …
    »Wie war sie?«, fragte Nora. »Du bist ihre Schwester. Du musst sie kennen.«
    Schwester. Ein Wort mit vielen Bedeutungen. »Maeve hatte etwas ganz Besonderes. Ein inneres Licht.«
    »War sie schön?«
    »Ja. Aber es war mehr, etwas, das aus ihrem Innern kam. Du kennst sicher Fotos von ihr. Dein Vater hat so viele gemacht. Er war ein guter Fotograf.«
    Nora schüttelte den Kopf. »Ich habe keine gefunden und erst beim Ausräumen des Speichers nach seinem Tod letztes Jahr gemerkt, dass er eine Kamera besaß. Es war, als hätte er Maeve vollständig aus seinem Gedächtnis gelöscht.«
    »Oh«, sagte Maire verblüfft. »Dann haben wir einiges nachzuholen.« Sie nahm ein Fotoalbum aus dem Regal und setzte sich neben Nora auf die Couch. Das Album hatte einen scharlachroten Einband mit abgewetzten Kanten, die Bilder darin waren schwarz-weiß. »Das da sind deine Großeltern mit deiner Mutter und mir am Strand, als wir Kinder waren.« Die Familienähnlichkeit war frappierend. Noras Mutter blickte, eine Hand in die Hüfte gestemmt, direkt in die Kamera. »Stahlhart, wie deine Großmutter gern gesagt hat. Als Mädchen wollte Maeve Piratin werden, bis sie gemerkt hat, dass das doch nicht so romantisch ist, wie sie dachte.«
    Maire blätterte die knisternden Seiten um. »Auf dem ist sie achtzehn.« Maeve stand bis zu den Oberschenkeln im Wasser, das Kleid klebte an ihrer Haut. »An dem Tag war sie in ihrem Baumwolloberteil schwimmen gegangen. Man konnte sie nicht immer dazu überreden, einen Badeanzug anzuziehen. Sie sprang ins Wasser, wann es ihr einfiel, egal, bei welcher Temperatur, mit Kleidern und allem. Die Kälte machte ihr, anders als uns, nichts aus.« Auf dem Foto waren Maeves Augen dunkel wie ihre Augenbrauen, und ihre Haut schimmerte. Maire lugte vom Rand des Fotos in die Kamera, als hoffte sie, bemerkt zu werden.
    »War es für dich schwierig, ihre kleine Schwester zu sein?«, erkundigte sich Nora. »Ihr wart doch fast gleich alt.«
    Maire überlegte. »Ich habe sie über alles geliebt. Aber manchmal war es tatsächlich schwer, in ihrem Schatten zu stehen. Sie hat sich nicht bewusst nach vorn gedrängt. Vermutlich habe ich mich zu oft im Hintergrund gehalten. Das war meine eigene Schuld, nicht ihre. Ich war damals ziemlich schüchtern und hatte nicht ihr Temperament. Sie war zupackend, ich eher passiv.« Trotzdem hatte es Ähnlichkeiten gegeben wie bei allen Geschwistern – die gleichen Gesten (sie neigten beide dazu, mit den Händen zu reden), das gleiche glockenhelle Lachen (das von Maeve war herzlicher), die gleichen braunen Augen, beide vom Vater geerbt.
    Maire blätterte um. »Hier ist ein Bild von deiner Mutter und deinem Vater, kurz nachdem er auf die Insel gekommen war.«
    »Wie haben sie sich kennengelernt? Er wollte es mir nicht erzählen.«
    »Der Zufall hat deinen Vater hierhergeführt«, antwortete Maire. »Sein Boot wurde im Sturm beschädigt, und er ist zur Reparatur in den Hafen gesegelt. Damals haben sich nicht viele Schoner hierherverirrt. Er konnte von Glück sagen, dass er gesund und munter war, denn in jener Nacht haben etliche Männer ihr

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