Das Mädchen in den Wellen
überall schlafen und Probleme einfach ausblenden. Dazu war Nora nie in der Lage gewesen. Sie lag im Dämmerlicht in ihrem Schlafzimmer; in Vollmondnächten wie dieser wurde es nicht richtig dunkel. In der grauen Welt mit ihren verschwommenen Konturen wurde ihr ganz stark seine Nähe bewusst, was sie gleichermaßen mit Erwartungen und Furcht erfüllte.
Sie schlief erst um ein Uhr morgens ein und wurde von zahlreichen Träumen heimgesucht. An einen erinnerte sie sich beim Aufwachen noch: Sie saß als Kind im Ruderboot, ihre Mutter mit dem Rücken zu ihr – jedenfalls glaubte sie, dass es Maeve war, denn sie konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Mama , sagte Nora, Mama , mit lauterer Stimme, als ihre Mutter nicht reagierte. Seeschwalben umflatterten sie, die Flügel ausgefranst und schmutzig wie zerknülltes Zeitungspapier voller Schlagzeilen über Katastrophen. Die Arme ihrer Mutter bewegten sich im Takt mit den Flügeln über ihnen, und das Wasser unter ihnen wurde tiefer, bodenlos. Der Himmel hatte die Farbe von Stahl, poliert, kalt. Der Wind blies zuerst noch leicht, dann heftiger. Wir müssen zurück , rief Nora. Maeve gab keine Antwort, wandte sich nicht zu ihr um. Als der Wind die Haare ihrer Mutter hochwehte, sah Nora einen einzelnen Strang Seetang zwischen ihren Locken. Nora wollte ihn entfernen. Dabei neigte sich das Boot gefährlich auf die Seite. Jetzt merkte Nora, dass die Haare ihrer Mutter ganz aus Seetang bestanden. Sie starrte die schleimig-grüne Strähne in ihrer Hand an. Deine Haare … Dann war Maeve plötzlich verschwunden. Eine Welle schlug über ihr zusammen, sie sank in die Tiefe, ein Schatten. Ich bekomme keine Luft. Keine Worte, nur ein Schwall von Blasen aus ihrem Mund, die an die Oberfläche stiegen, sich in der Gischt verloren.
Als Nora nach Luft schnappend erwachte, spürte sie Malcolms Arme um sich. Sein vertrauter Geruch, so nah und warm. Sie ließ sich einen Augenblick lang von ihm halten.
»Keine Angst. Ich bin da«, sagte er.
Sie löste sich von ihm und drückte ein Kissen an ihre Brust.
Malcolm setzte sich auf die Seite des Betts, auf der er früher neben ihr geschlafen hatte. Er trug ein einfaches graues T-Shirt und eine karierte Pyjamahose. Zu Hause hatten sie immer nackt geschlafen. »Wieder der gleiche Traum?«, fragte er.
Eine Version des wiederkehrenden Albtraums vom Ertrinken, den sie seit Jahren hatte. »Ja«, antwortete sie.
»Ist er schlimmer geworden, seit du hier bist?«
Der Traum hatte sich in der Woche vor Maires Brief, in der Malcolm nicht zu Hause gewesen war, intensiviert wie eine Vorahnung. »Nein, kein Problem.«
Er erhob sich mit zerzausten Haaren. Das sah irgendwie komisch aus. Früher hätte sie ihn deswegen geneckt.
»Du solltest gehen«, sagte sie.
Er nickte.
Sie wussten, dass es nicht gut war, wenn die Mädchen sie so sahen.
An der Tür drehte er sich um. »Ich bin da, wenn du mich brauchst.«
Den Schmerz, das Bedauern spürte sie erst, als er draußen war. Das leise Geräusch der sich schließenden Tür dokumentierte ihre Trennung, er auf der einen Seite der Wand, sie auf der anderen.
Ein Tag ging fließend in den nächsten über. Nora trainierte stundenlang für das Rennen. Sie fühlte sich stärker und wagte sich immer weiter hinaus. Malcolm blieb in Ufernähe zurück, wo die Mädchen ihm demonstrierten, wie gut sie schwammen.
Er machte keine Anstalten, sich von ihnen zu verabschieden.
»Musst du nicht weg?«, fragte Nora ihn eines Nachmittags, als sie sich abtrocknete.
»Wohin?«
»Nach Boston.«
Zu seiner Arbeit. Zu seinem Leben. Zu ihr. Obwohl sie nicht über sie gesprochen hatten, war sie anwesend. Ein Gedanke ohne Gestalt und Form.
Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«
»Wann?«
Er seufzte. »Es ist doch schön, oder? Wir kommen hier, weg von allem, gut miteinander aus.«
Von allen. Meinte er das?
»Ich wusste gar nicht, dass du eine so gute Schwimmerin bist«, sagte er.
»Ich auch nicht. Ich mag das Meer.« Ihr war nicht klar gewesen, wie eingeengt und in ihrer Freiheit eingeschränkt sie sich im Swimmingpool fühlte. Sie empfand es als befreiend, im Meer zu schwimmen, ohne Mauern, Bahnen und Bademeister, der sie zurückpfiff.
»Du siehst gut aus.«
Wieder hatte sie etwas Unerwartetes getan. Das machte sie interessanter für ihn.
»Ich tu das nicht für dich«, erklärte sie. »Sondern für mich.«
Er hatte einen Drachen mitgebracht, einen bunten Papiervogel, der sich vom Wind tragen ließ und in der Luft komplizierte
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