Das Mädchen in den Wellen
daran hindern konnte. »Solomon & Gates« stand darauf. Eine Bostoner Adresse, der perfekte Name für eine auf Scheidungsfälle spezialisierte Anwaltskanzlei. Einer von Malcolms Kommilitonen aus dem Jurastudium war Partner dort.
Nora zog ihn ihr weg. Dabei riss eine Ecke des Umschlags, und der Fetzen flatterte auf den Boden. »Der Brief ist an mich adressiert. Ich setze mich damit auseinander, wenn ich dazu bereit bin.«
»Er betrifft mich genauso.«
»Ja, aber ich habe das Sagen.«
»Auch darüber, dass Dad nicht hier ist?«
»Nein, das war seine Entscheidung.«
»Du hast auch Entscheidungen getroffen.«
Weil es keine brauchbaren Alternativen gab. Nora wollte nicht die Nebenfrau sein, ihn nicht teilen. Die andere wollte das offenbar genauso wenig, und so hielt Malcolm beide hin. Das Schlimmste daran war die Demütigung. Nora wusste nicht, ob sie ihm verzeihen konnte, was er ihr angetan hatte, nach wie vor antat. Vielleicht glaubte er, es sei den Preis wert; schließlich brachte ihm das Ganze eine neue Liebe, ein zweites Leben oder zumindest die Aussicht darauf. Und was bekam sie?
Ella ballte die Hände zu Fäusten. »Alles passiert einfach, ohne dass ich es beeinflussen kann.«
»Ich weiß, dass das hart für dich ist.«
»Nein, das weißt du nicht.« Ellas Stimme kippte. »Du bist nicht ich. Du hast keine Ahnung, wie sich das anfühlt.«
»Wie fühlt es sich an?«
»Als würde alles auseinanderbrechen.«
Nora streckte die Hand nach ihr aus, doch Ella drehte sich weg und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Vielleicht war es besser so, bevor sie Dinge sagten, die sie später bereuten. Noras Kopf schmerzte von der Anstrengung, ihren Zorn im Zaum zu halten.
Annie, die auf der Terrasse mit den Katzen gespielt und die Auseinandersetzung mitbekommen hatte, schlich auf Zehenspitzen herein. »Wann wird sie aufhören, so wütend zu sein?«
»Sie hat ein Recht auf ihre Gefühle.« Nora zog Annie zu sich heran, die Tochter, die sich noch von ihr umarmen ließ. Die andere, die den Trost genauso sehr, wenn nicht dringender gebraucht hätte, distanzierte sich.
Annie, die sich nicht lange so umarmen lassen, keine Position beziehen wollte, entschlüpfte ihr und nahm mit einem Stück Meerglas in der Hand Nora gegenüber Platz. »Basteln wir was?« Sie hielt das Glas ins Licht. »Das ist nicht wie anderes Glas. Man kann nicht durchsehen. Es ist trübe.« Sie drehte es zwischen den Fingern.
Doch im richtigen Winkel schimmerte es.
SIEBZEHN
N ora schleuderte den Brief durchs Zimmer. Es war Nacht, der Himmel schwarz, mit Spinnweben aus Wolken überzogen wie ein großer, unbewohnter Raum. Sie hatte es den ganzen Tag über vermieden, das Schreiben zu lesen, das die offizielle Trennung vorschlug. Malcolm wollte sie zu seinen Bedingungen in seinem Leben haben, unabhängig davon, wie Noras Bedürfnisse aussahen. In dem Umschlag befand sich auch eine persönliche Notiz in seiner krakeligen Schrift. »Dieser Kompromiss dürfte uns allen entgegenkommen.« Keine Abschlussformel, nur »Malcolm«. Was hätte er auch schreiben sollen? Mit freundlichen Grüßen, Mit besten Wünschen, Dein ? Bestimmt nicht Alles Liebe , nicht mehr.
Die Seiten schienen ein Eigenleben zu besitzen. Nora setzte sich auf die Bettkante und vergrub die Finger in der Spitzentagesdecke, in die fein miteinander verwobenen Fäden, die sich an manchen Stellen auflösten. Warum hatte sie nicht selbst die Trennung vorgeschlagen? Dann hätte sie die Zügel in der Hand gehabt. Dass das so war, hatte sie geglaubt, als sie auf die Insel gekommen war, um sich eine Auszeit zu nehmen. Nora fragte sich, was die andere, wie sie auch immer heißen mochte, von dem Arrangement hielt. Hatte er ihr die Wahrheit gesagt, oder ließ er sie in dem Glauben, dass er die Scheidung eingereicht hatte? Diese Zwischenlösung, dieser eheliche Schwebezustand war unerträglich.
Die Tür zum Zimmer öffnete sich quietschend. Ella. »Will er die Scheidung?«, erkundigte sie sich und betrachtete die auf dem Boden liegenden Blätter.
»Nein.«
In Ellas Augen glänzten Tränen. Bei ihrem Anblick brach es Nora fast das Herz.
»Warum bist du dann so aus der Fassung?«, fragte Ella.
»Ach, es ist nichts.« Nora konnte ihr nicht sagen, dass die Bitte um Scheidung in ihrer Endgültigkeit für sie fast eine Erleichterung gewesen wäre. »Der Wind hat den Brief von der Frisierkommode geweht.«
Wie aufs Stichwort blähte eine leichte Brise vom Meer die Vorhänge.
Nora würde nicht unterschreiben,
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