Das Mädchen in den Wellen
wieder zu erholen, und unter schweren Depressionen gelitten.«
»Und mein Großvater?«
»Der hat nie wieder darüber gesprochen.«
Nora nickte. Das erinnerte sie an ihren Vater, der bei schwierigen Themen auch lieber geschwiegen hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Maire. »Ich weiß, dass das ziemlich viel zu verarbeiten ist.«
»Ja.«
Maire legte einen Finger an die Lippen. »Wir stören die Bienen. Sie sind noch dabei, sich an die neue Königin zu gewöhnen. Wenn wir ihnen keine Zeit lassen, lehnen sie sie vielleicht ab.«
»Und was passiert dann?«
»Sie bringen sie um.«
»Oje.«
»Ja.« Maire beruhigte die Bienen mit dem Smoker, und nach wenigen Sekunden war die Luft so dick, dass Nora kaum noch etwas erkennen konnte. Sie und Maire verschwammen zu Silhouetten, weniger Formen als Andeutungen ohne klare Grenzen in einem Raum, in dem die Orientierungspunkte nicht mehr länger sichtbar waren und in dem man sich vorsichtig bewegen musste.
SECHZEHN
E lla blieb nicht lange am Strand. Sie wartete, bis Nora das Cottage verließ, und verschanzte sich dann mit ihrem Buch Little Women in ihrem Zimmer. Annie hingegen baute eine Festung aus Treibholz, Sandburgen und Steinpyramiden, eine Architektin des Meeres. Die Sonne lugte zwischen den Wolken hervor, auch das Meer schien sich beruhigt zu haben. Annie beobachtete, wie ein Einsiedlerkrebs mit abgehackten Bewegungen über den Strand marschierte. Er konnte sich sein Zuhause überall suchen. Sie würde es ihm gleichtun, sich für das Glück entscheiden.
Ein Schatten: Ronan, ein Armband aus Seetang ums Handgelenk. Er trug dieselben Shorts wie immer. Annie fragte sich, ob er noch andere Hosen hatte oder ob sie alle identisch waren. »Da bist du ja. Ich hab mich schon gefragt, wo du steckst.«
»Verwandte besuchen«, erklärte er.
»Ein Familientreffen?«
»So was Ähnliches.«
»Bei uns ist nicht mehr viel Familie übrig für solche Treffen.« Auf der Seite ihres Vaters gab es eine Menge Verwandte, die sie jedoch nur bei Hochzeiten und Beerdigungen trafen, da seine Schwestern, abgesehen von Tante Ro, alle weit weggezogen waren. »Aber hier haben wir eine Verwandte gefunden, die wir noch nicht kannten. Maire.«
»Die Frau in dem großen Haus? Die hab ich im Garten arbeiten sehen.«
»Ich könnte euch bekannt machen.«
»Du bist die Einzige, mit der ich reden kann.«
»Hast du deiner Mutter von mir erzählt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich würde sie gern mal kennenlernen.«
»Vielleicht, eines Tages. Wie lange werdet ihr hier sein?«
»Wahrscheinlich den Sommer über.«
»Ich auch. Wir ziehen von Ort zu Ort.«
»Meereszigeuner.«
»Und du? Wo ist dein Vater? Er war doch mit dir am Strand.«
»Ich hab mich schon gefragt, ob du uns gesehen hast, und nach dir Ausschau gehalten.«
»Ich hab mich versteckt.«
»Das kannst du gut«, sagte sie. »Wir sind mit ihm im Ruderboot rausgefahren. Die meiste Zeit hat’s Spaß gemacht.«
»Die meiste Zeit?«
»Solange sich meine Eltern nicht gestritten haben. Sie können nicht zusammen sein, aber auch nicht getrennt.«
»So ist das manchmal.«
»Und dein Vater?«
»Der ist weg.«
»Weg? Haben deine Eltern sich scheiden lassen?«
»Sie waren nie verheiratet.«
»Oh. Wie war er?«
»Das weißt du.«
»Wie meinst du das?«
»Du kennst ihn. Den Mann, den du Owen nennst.«
»Annie?« Beim Klang von Ellas Stimme tauchte Ronan fast lautlos in die Brandung.
»Mit wem hast du geredet?« Ella kletterte die Böschung hinunter. »Ich habe Stimmen gehört.«
»Wolltest du nicht allein sein?« Annie war noch dabei, Ronans verblüffende Information zu verarbeiten, von der sie niemandem, nicht einmal Owen, erzählen durfte. Das Geheimnis wurde immer größer. Doch sie musste es bewahren, das hatte sie versprochen. Einmal hatte sie sich schon verplappert, bei Tante Maire. Das durfte nicht noch einmal passieren.
»Mir war langweilig.« Ella setzte sich neben sie. »Und? Was läuft?«
»Nichts. Ich hab mit einem Fantasiefreund gespielt. Solche Freunde habe ich viele, das weißt du doch.« Ihr Herz schlug wie wild. Es war schwer, Ella etwas vorzumachen. Manchmal erschien es Annie, als könnte sie ihre Gedanken lesen.
»Klang ziemlich real. Ich hätte schwören mögen, dass da jemand geredet hat. Und ich hatte das Gefühl, dass jemand ins Wasser verschwunden ist.«
»Du siehst Gespenster.« Annie lachte. »Hier ist niemand außer mir.«
Ella brummte etwas.
»Bist du noch sauer?«
»Ich wünschte, wir könnten
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