Das Mädchen in den Wellen
noch nicht. Sie wollte sich zuerst darüber klar werden, was sie sich vorstellte, was das Beste für die Mädchen war, und dann agieren. Sie würde sich nicht auf Malcolms Regeln einlassen.
Annie legte das Märchenbuch auf Noras Schoß, als diese sich auf ihr Bett setzte, um den Mädchen Gute Nacht zu sagen. »Zeit zum Vorlesen.«
»Ja?« Nora hatte das Gefühl, dass sich ihr Leben immer stärker mit den Geschichten aus dem Buch verwob.
»Es ist dunkel draußen, hast du das nicht gemerkt?«
Sie schüttelte den Kopf. Wie lange hatte Nora in ihrem Zimmer gesessen? Minuten? Stunden? Vermutlich eher Minuten, und trotzdem war ihr die Zeit endlos erschienen – die Zeit, sie selbst, in der Schwebe.
»Können wir lesen, El?« Annie wandte sich ihrer Schwester zu.
»Ich bin beschäftigt.« Ella nahm selbst ein Buch in die Hand.
»Antigone«, las Annie den Titel laut vor.
»Ja.«
»Warum liest du das?«, erkundigte sich Annie.
»Die Sommerlektüre kann das nicht sein«, stellte Nora fest. Der Text war viel zu schwierig für Ellas Jahrgangsstufe.
»Ich hab mir selber eine Liste zusammengestellt«, teilte Ella ihnen mit. »Weil ich was für meine Bildung tun möchte. Vorbereitung aufs neue Schuljahr.«
»Ganz schön schwere Kost«, bemerkte Nora.
»Der Text ist passender, als du glaubst.« Ella sah Nora mit einem eindringlichen Blick an.
»Komm, El«, sagte Nora. »Die Tragödie kann warten.«
»Na schön.« Ella ergab sich widerwillig in ihr Schicksal.
So krochen beide Mädchen in Annies Bett wie früher in Boston, wenn sie nicht allein sein wollten, und kuschelten sich an Nora, die ihre Nähe genoss. Solche Momente konnte es also noch geben …
Annie blätterte in dem Buch.
»Welche Geschichte?«, fragte Nora.
»Die soll El aussuchen«, antwortete Annie.
»Gut. Die da.« Ella wählte eine der Odyssee ähnliche über einen Mann, der sich verirrt hatte und den Weg zu seiner Familie wiederfinden wollte. »›Eines Morgens erwachte Nial mitten auf dem Meer, weit, weit weg vom Land und allem, was er kannte. Er hatte nur einen einzigen Gedanken: nach Hause …‹«
Am folgenden Morgen hörte Nora die Stimmen der Mädchen auf der Wiese. Sie sah auf die Uhr: halb zehn. So lange hatte sie nicht schlafen wollen. Sie zog Jeans und T-Shirt an und machte sich einen Kaffee. In der Welt vor dem Cottage verschmolzen Himmel und Erde, Grün und Grau, gesprenkeltes Blau und gelbe Tupfen; die Gänseblümchen blühten. Auf dem Tisch stand ein Sträußchen, das Annie und Ella am Vortag gepflückt hatten.
Nora schlüpfte in Flip-Flops und füllte die Gießkanne mit Wasser, um die Blumen in den Kästen vor den Fenstern zu gießen, die nach dem schönen Wetter der vergangenen Tage schlapp wirkten. Sie schaute hinaus auf das Gestrüpp und das Gras vor dem Cottage. Um die Blumenbeete hatte sich lange niemand mehr gekümmert; hier war Maire noch nicht tätig geworden. Wenn sie blieben, würde Nora eine Mischung aus winterharten Gräsern und pflegeleichtem Lavendel pflanzen, die sich im Wind wiegten.
Ihr Blick wanderte zur Auffahrt, zum Geländewagen. Der Familienwagen der Cunninghams. Jemand hatte in der Nacht etwas auf die Windschutzscheibe geschrieben. Sie ging näher heran, den Blick auf die Bäume und die Straße gerichtet. Manchmal glaubte sie, Maggie Scanlon zu sehen, die das Haus beobachtete, doch sie wusste, dass sie sich das nur einbildete. Maggie war krank, das Cottage lag zu weit außerhalb des Ortes, als dass sie es in ihrem Zustand hätte erreichen können. – Obwohl sie es schon einmal bis zum Beerenfeld geschafft hatte. Nora beschattete die Augen, um das Wort zu entziffern: Hexe .
Das war wie ein Schlag in die Magengrube. Nora nahm mit klopfendem Herzen das Fensterleder aus dem Handschuhfach und wischte die Buchstaben weg. Das durften die Mädchen nicht sehen.
Als sie eine Bewegung zwischen den Bäumen wahrnahm, erstarrte sie. Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie abgelegen dieser Teil der Insel war. Ein Stockschirm auf dem Rücksitz war die einzige Waffe weit und breit.
Eine Gestalt trat zwischen den Bäumen hervor. Gott sei Dank: Owen. In den vergangenen Wochen waren seine Haare länger geworden. Sie reichten nun über den Kragen des dunkelgrünen Karohemds von Noras Cousin und hingen ihm in die Augen. In der Hand hielt er einen Weidenkorb mit Deckel.
»Wäschst du den Wagen?«, fragte er.
»Könnte man so sagen.« Ihre Hände zitterten.
»Was ist los?« Er berührte ihre Wange, dann wanderte sein Blick zu
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