Das Maedchen mit dem Stahlkorsett
sich nicht anders, aber zum Glück, dachte sie nicht ohne Eitelkeit, hatte sie nur sehr wenige Schwächen.
Also betrat sie vor Dandy das düstere Haus. Innen sah es völlig anders aus als draußen. Die Hartholzdielen waren geschrubbt und gewienert. Im Flur hingen Bilder an der weinroten Tapete, weiter hinten lag offenbar ein vornehm eingerichteter Salon. Dorthin führte Dandy sie.
Sie pfiff leise durch die Zähne. »Hier wohnen Sie also?«, fragte sie und war erleichtert, dass kein Ganove in der Nähe war. Offensichtlich teilte sie mit Dandy die Vorliebe für die schönen Dinge des Lebens, sofern die satten Farben und die teuren Stoffe, mit denen der Raum ausgestattet war, dieses Urteil erlaubten.
Dandy kicherte. » ’s gibt viel zu viele Leute, die mich im Schlaf umbringen wollen. Deshalb schlaf ich nich’ da, wo ich Geschäfte mache.«
Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, während sie über den dicken gemusterten Teppich lief, der den größten Teil des Bodens bedeckte. »Sind Sie wirklich ein so schlechter Mensch, Mister Dandy?« Mit den Fingern strich sie über die Samtkissen auf dem Sofa und beobachtete ihn verstohlen.
Er lehnte sich an den Türrahmen und nahm offenbar Anlauf, um ihr ein wenig den Hof zu machen. Hier, im helleren Licht, konnte sie sein Alter besser schätzen. Er war höchstens einundzwanzig. Zu jung, um so einen Ruf zu haben.
»Manchmal schon, Miss Jayne.«
Eiskalte Finger schlossen sich um ihr Herz, und ihr Selbstvertrauen war vorübergehend gründlich erschüttert. Einen Moment lang drohte sogar ihre schwache Seite, die Oberhand zu gewinnen. Sie setzte sich auf das Sofa. »Sie … woher wissen Sie meinen Namen?«
Er grinste, bleckte die makellosen Zähne und stieß sich vom Türrahmen ab. »Ich werd Ihnen doch nicht meine Ganovengeheimnisse anvertrauen, was?«
Darauf fiel ihr nichts mehr ein, und sie fürchtete ohnehin, nur noch mit bebender Stimme sprechen zu können. Also blieb sie einfach sitzen, wo sie war, und beobachtete ihn, während er vor eine Anrichte aus polierter Eiche trat, auf der einige Kristallflaschen standen. Sie atmete tief durch und beruhigte sich langsam wieder. Dandy stellte keine Gefahr für sie dar. Das wusste sie, weil sie auch ihn nicht bedrohte. Sie waren einander ähnlich. Zwei Raubtiere, beide gefährlich und beide eitel. Und sie fanden einander faszinierend.
»Möchten Sie ein wenig von der grünen Fee kosten, Schätzchen?«
Absinth. Sie hatte ihn noch nie probiert, aber andere darüber reden hören. Künstler tranken ihn. Es war etwas Ungehöriges, dem die Menschen mitunter verfielen. Das allein war Grund genug für Finley – oder für ihre derzeitige Persönlichkeit – anzunehmen.
»Woher weiß ich, dass Sie kein Laudanum hineingeben?« Das Mittel wirkte bei ihr nicht so stark wie bei normalen Menschen, würde sie aber dennoch eine Weile benommen machen und ihre Aufmerksamkeit lähmen.
Er lächelte sie über die Schulter an. »Hab so den leisen Verdacht, dass Sie im Wachzustand viel amüsanter sind.«
Tatsächlich, er machte ihr den Hof. Finley lächelte zufrieden, beobachtete ihn aber trotzdem mit Argusaugen. Sie waren einander sehr ähnlich, und es kam überhaupt nicht infrage, ihm vorbehaltlos zu vertrauen. Vielleicht wollte er ihr nichts tun, aber er würde trotzdem versuchen, die Oberhand zu gewinnen, sobald sich die Möglichkeit dazu bot.
Er legte die Absinthlöffel mit den Zuckerwürfeln über die kleinen Gläser, zückte eine Schachtel Streichhölzer und zündete den mit Alkohol getränkten Zucker an. Nach einem Moment gab er den Zucker in die Gläser. Auf dem Absinth erwachten schöne Flammen, die, wie Finley dachte, sicher gleich auf seine Ärmel übergreifen mussten. Dann goss Dandy ein wenig Wasser in die Gläser und löschte die Flammen. Er rührte um und gab ihr eines. Erstaunt starrte sie es an.
»Mein lieber Schwan, Sie sind mir aber eine.« Dandy setzte sich ihr gegenüber auf das rote Zweiersofa.
»Was meinen Sie damit?« Sie hob das Glas und trank. Die milchige Flüssigkeit schmeckte nach Lakritz und war süß.
»Marschier’n frech wie Oskar hier rein, ha’m aber kein bisschen Gossengestank an sich. Möcht’ wetten, Ihre Mum fragt sich schon, wo Sie stecken. Wär sie nicht enttäuscht, wenn sie sehen würde, dass Sie sich mit mir einen genehmigen?«
»Meine Mutter weiß nicht, dass ich hier bin.« Noch während sie es sagte, bekam sie Schuldgefühle, die sie mit einem schüchternen Lächeln überspielte.
Weitere Kostenlose Bücher