Das Maedchen mit dem Stahlkorsett
vorging. Er schniefte, kicherte und hustete Schleim, als wollte er, dass es die ganze Stadt hörte. Schließlich hatte sie genug davon und blieb stehen, um ihm zu sagen, dass er Leine ziehen sollte.
Nur … nur, dass der zerlumpte Mann nicht da war. Niemand war da. Mit gerunzelter Stirn drehte sich Finley einmal um sich selbst.
Da starrte sie einen Mund mit vollen Lippen an, die nicht lächelten. Finley fuhr nicht zurück, dazu war sie viel zu verblüfft – und beeindruckt. Wie hatte er es geschafft, sich anzuschleichen? Niemand konnte sich an sie anpirschen. Als sie den Blick hob, entdeckte sie zwei nachtschwarze Augen, ein gerahmt von dicken, langen Wimpern. Wimpern, wie kein Mann sie von Rechts wegen besitzen durfte.
»Hallo, Darling«, grinste er und entblößte Zähne, die erstaunlich gerade waren und im Mondlicht hell schimmerten. »Hab gehört, Sie suchen mich.«
Er war groß und schlank, trug schwarze und modische Kleidung, die ihn in den finsteren Straßen fast unsichtbar machte. Auch die Haare waren dunkel und fielen ihm in zerzausten Wellen ins Gesicht. Ein Gentleman der Unterschicht – welch eigenartiger Widerspruch. Er war das kühle Licht der Nacht neben Griffin Kings warmem Tageslicht. Allerdings war ihr nicht ganz klar, warum sie die beiden überhaupt miteinander verglich.
»Das ist wahr«, erwiderte sie.
Er breitete die Arme aus und zeigte sich scheinbar verletzlich, obwohl er es in Wahrheit keineswegs war. Eher machte er sich über sie lustig. »Und was nu’, da Sie mich gefunden ha’m?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, Sie wären ein wenig beeindruckender.« Insgeheim musste sie sich eingestehen, dass er ihr durchaus gefiel, und offensichtlich war er tatsächlich der Mann, den sie gesucht hatte.
Er legte den Kopf in den Nacken und lachte, dass es laut durch die Gassen hallte. Finley lief es kalt den Rücken hinunter. Vorahnungen und ein seltener Anflug von Angst ließen ihre Bauchdecke flattern. Es gefiel ihr. Er gefiel ihr.
Als er genug gelacht hatte, bot er ihr lächelnd den Arm an. »Möchten Sie’n Stückchen laufen, Schätzchen?«
Sie hakte sich bei ihm ein. Die schwarze Wolle seines Gehrocks war weich und warm unter ihrer Hand. Er führte sie ins Mondlicht, als begleitete er sie zu einem Ballabend. Natürlich konnte sie ihm im Handumdrehen das Genick brechen, doch sie war ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten – ganz ähnlich, wie es mit ihrer anderen Seite bei Griffin geschehen war. Dandy besaß Macht, die ihm Selbstvertrauen verlieh. Sie hatte genug Kraft, um ihn zu verletzen, doch er war kein leichter Gegner, und vielleicht würde sie einen Kampf nicht einmal überleben.
Genau wie bei Griffin verstärkte diese Einschätzung ihre Hochachtung.
Als sie liefen, erfasste sie das schwache Scheinwerferlicht eines Luftschiffs. Finley blickte hoch und sah das Licht näher kommen. Mit wirbelnden Propellern sank die Maschine langsam vom Himmel herab und steuerte offenbar den nur wenige Meilen entfernten Londoner Anlegeplatz an. Es musste aufregend sein, so hoch und so schnell zu fliegen.
Dandy folgte ihrem Blick, hielt aber nicht inne. »Ich war mal in so ’nem Ding«, erzählte er. »Bin übers Geländer geklettert und hab mich an’n Seil gehängt. Es war befreiend. Beinahe hätte ich losgelassen.«
Überrascht drehte sie sich zu ihm um. »Den Sturz hätten Sie nicht überlebt.«
Er lächelte leicht. »Vorher wär’ ich aber geflogen. Gibt schlimmere Arten zu sterben.«
In den Tod zu stürzen war keineswegs angenehm, doch Finley dachte einen Moment darüber nach, wie es wohl wäre, aus großer Höhe zur Erde zu fallen, den Wind im Haar zu spüren, die Wolken zu schmecken. Ja, das wäre, als würde man fliegen, und sie konnte sich tatsächlich schlimmere Todesarten vorstellen.
Er lotste sie die niedrigen Treppenstufen vor einem aus Stein gebauten Reihenhaus hinauf, das nichts Besonderes oder Einladendes an sich hatte. Die Fenster waren verschmiert, an der Vordertür blätterte die Farbe ab, und Finley hielt es für keine gute Idee, einfach einzutreten. Es konnte eine Falle sein. Vielleicht warteten da drin bewaffnete Männer auf sie. Abgebrühte Gauner waren schwieriger zu bekämpfen als brave Bürger.
Trotzdem, sie wollte sich nicht einschüchtern lassen, nicht von diesem jungen Mann, der vermutlich gerade Wolf genug war, um Angst zu wittern. Er war genau der Typ, der jede Schwäche zu seinem Vorteil nutzte, sobald er sie nur spürte. Sie selbst verhielt
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